Letzte Änderung: 30. November 2020

Urteilsdatenbank

Den Kern des Projekts bildet die Arbeit mit den Originalurteilen des Gerichts BiH. Diese sind – mit Ausnahmen – auf der Internetpräsenz des Gerichts veröffentlicht (http://sudbih.gov.ba/). Im ersten Arbeitsschritt wurden Verfahren ausgewählt, die Aufschluss über den Umgang des Gerichts BiH mit den völkerstrafrechtlichen Beteiligungsformen und besonders komplexen Formen kollektiver Verbrechensbegehung versprachen. Daher finden sich unter den Verfahren im Folgenden vor allem solche mit vielen Mitangeklagten, die teilweise auf unterschiedlichen Hierarchieebenen in das komplexe Zuständigkeitssystem der Militär- und Zivilbehörden auf dem Gebiet von Bosnien und Herzegowina eingebunden waren. Übersetzt wurden von diesen Urteilen dann die Abschnitte, die sich mit den in diesem Projekt in den Blick genommenen Themenfeldern der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit und der Strafzumessung befassen. Dazu mussten aber auch großzügig Abschnitte über die Beweiserhebung und die Beweiswürdigung im konkreten Einzelfall übersetzt werden.

In einigen der Verfahren wurden nicht alle Urteile übersetzt. Vor allem dann, wenn das Urteil der ersten Instanz vollständig aufgehoben und dann ein neues Tatsachenurteil in zweiter Instanz gefällt worden war, wurde auf eine Übersetzung des Urteils in erster Instanz verzichtet.

Zu jedem Verfahren werden hier die Urteilsübersetzung und ein Analysedokument zum Gesamtverfahren angeboten. Wenn ein Verfahren gegen einzelne Mitangeklagte im Laufe des Prozesses abgetrennt wurde, findet sich dieses abgetrennte Verfahren im Analysedokument in der Regel in einem Annex zu dem jeweiligen Hauptverfahren.

  • Zoran Babić et al. - Korićanske Stijene

    Das erste Verfahren handelt von Gewaltexzessen an den Klippen von Korićani. Angeklagt waren Zoran Babić, Milorad Radaković, Milorad Škrbić, Dušan Janković und Željko Stojnić. Ferner in einem Parallelverfahren Saša Zečević, Marinko Ljepoja, Branko Topola und Radoslav Knežević. Ihnen wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 172 StGB BiH) vorgeworfen.

     

    Das abzuurteilende Tatgeschehen fand im August 1992 statt. 1200 kroatische und bosnische Zivilisten wurden in einem militärisch bewachten Konvoi aus der Region Banja Luka eskortiert, um in Gebiet unter Kontrolle der Armee BiH gebracht zu werden. Der Konvoi wurde durch eine Eskorte des sog. „Interventionszugs Prijedor“ begleitet, der aus Polizisten und Hilfspolizisten bestand und der in Prijedor zuvor bereits zahlreiche Vertreibungsaktionen gegen Kroaten und Muslime durchgeführt hatte. Die Angeklagten gehörten diesem Interventionszug an.

     

    Der Konvoi wurde bei einer Rast am Ufer eines Nebenflusses des Ilomska aufgeteilt. Ob das spontan geschah oder auf vorhergehenden Befehl hin, ließ sich nicht ermitteln. Etwa 200 wehrfähige Männer wurden in zwei Busse gepfercht und zum Berg Vlašić gebracht. Dort erschossen Mitglieder des Interventionszugs die etwa 200 Zivilisten an den Klippen von Korićani. Die Opfer wurden an den Klippen aufgestellt und mittels Gewehrfeuer exekutiert oder zum Sprung über die Klippen getrieben. Im Anschluss wurde von den Klippen herunter weitergefeuert und Handgranaten eingesetzt, um eventuelle Überlebende zu liquidieren. Nur wenige Opfer überlebten das Massaker.

     

    In tatsächlicher Hinsicht ist das Urteil interessant, da unklar bleibt, wer den Befehl zu dem Massaker gegeben hat. Es gab einen Zeugen, der vor dem ICTY ausgesagt hatte, dass Miroslav Paraš, einer der Leiter des Interventionszuges, bei der Aussonderung der wehrfähigen Männer eine Liste mit Namen von Zivilisten bei sich hatte, die gezielt aus dem Interventionszug herausgezogen und sodann exekutiert werden sollten. Die Auswahl der übrigen Opfer erfolgte dann eher zufällig aufgrund von Alter und Geschlecht. Dieser Zeuge stand dem Gericht BiH jedoch allem Anschein nach nicht zur Verfügung. Er hatte einmal als Zeuge unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor dem ICTY ausgesagt und danach nie wieder. Miroslav Paraš selbst konnte weder angeklagt noch befragt werden, da er entweder tot oder untergetaucht ist.

     

    Rechtlicher Schwerpunkt des Falles ist, ob die Angeklagten – allesamt Polizisten oder Hilfspolizisten – als Beteiligte an einem joint criminal enterprise oder als bloße Mittäter anzusehen sind. Im erstinstanzlichen Urteil wurden die Angeklagten als Mittäter durch aktives Tun verurteilt. Lediglich dem Angeklagten Janković wurde Mittäterschaft durch Unterlassen vorgeworfen: Als ranghöchster Polizist im Konvoi hatte ihn die Pflicht getroffen, das Massaker zu verhindern, was er jedoch nicht tat. Diese Verurteilungen wurden in zweiter Instanz bestätigt. Ein joint criminal enterprise lehnte das Gericht ab, da nicht erwiesen sei, dass die Angeklagten in einem auf höherer Ebene gefassten Plan zur Begehung des Massakers involviert gewesen wären. Im Zuge dieser Annahme unterlässt das Gericht es jedoch im Weiteren, ein joint criminal enterprise auf lokaler Ebene, geplant von den Polizisten im Konvoi, zu diskutieren. Im vorliegenden Fall ist dies zwar akzeptabel, da die Angeklagten hohe Haftstrafen erhielten, allerdings bedeutet diese Rechtsprechung des Gerichts BiH auch eine gewisse Entlastung für die Angeklagten: Eine Beteiligung an einem joint criminal enterprise komme für sie nur deshalb nicht in Frage, weil es ein joint criminal enterprise auf den höheren Hierarchieebenen gab.           
    Ferner wurden Angeklagte in anderen Verfahren zu demselben Tatsachenkomplex wegen Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Wege der Beteiligung an einem joint criminal enterprise verurteilt. Im Fall von den früheren Mitangeklagten Ivanković und Ɖurić erfolgte dies jedoch auf der Basis eines plea agreements, sodass die Strafen dennoch milder ausfielen als für die Angeklagten in Babić et al.

     

    Links:

     

    Erstinstanzliches Urteil

     

    Aufhebungsentscheidung

     

    Zweitinstanzliches Urteil

     

    Analysedokument

     

    Parallelverfahren:

     

    Petar Čivčić et al.

     

    Appellationsurteil Radoslav Knežević

  • Željko Mejakić et al. - Prijedor: Omarska, Trnopolje und Keraterm

    Im Verfahren Mejakić et al. waren angeklagt: Željko Mejakić, Momčilo Gruban und Duško Knežević. Angeklagt war ferner in einem Parallelverfahren Dušan Fuštar. Es geht um die Aufarbeitung der Verbrechen in den Konzentrationslagern um Prijedor. Konkret lauteten die Anklagen auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit an nichtserbischen Zivilisten in den Internierungslagern Omarska, Trnopolje und Keraterm. Mejakić war angeklagt für seine Tätigkeit als De-Facto-Kommandant des Lagers Omarska und Gruban als Wachdienstschichtleiter. Der weitere Angeklagte Knežević gehörte dagegen nicht zum Lagerpersonal, hatte als Soldat der bosnisch-serbischen Armee jedoch Zutritt zu den Lagern und nutzte diesen, um dort Häftlinge schwer zu misshandeln.

     

    Die Lager wurden im Jahr 1992 zur Umsetzung des serbischen Plans, die nichtserbische Bevölkerung dauerhaft aus Prijedor zu entfernen, errichtet. Mehr als 7000 Nichtserben waren während des Jahres 1992 inhaftiert. Die Gefangenen waren fast ausschließlich Zivilisten und mussten in den Lagern unter unmenschlichen Bedingungen, ohne Versorgung mit Nahrung und Hygiene leben und waren permanent den gewalttätigen Übergriffen von Wärtern, Vernehmungsbeamten und Soldaten ausgesetzt. Hinzu kamen Paramilitärs und andere Dritte, die das Lager ungehindert aufsuchten, um ihrerseits Gefangene zu malträtieren.

     

    Der Angeklagte Mejakić war als De-Facto Kommandant des Lagers Omarska für alle drei Wachschichten und damit auch für die mehr als 3000 inhaftierten Zivilisten verantwortlich. Der Vorwurf gegen ihn lautet, dass er von den ständig begangenen schweren Verbrechen im Lager wusste und nicht dagegen einschritt, obwohl er kraft seiner Position im Lager zum Schutz der Zivilisten verpflichtet war und er auch effektiv die Möglichkeit gehabt hatte, die Übergriffe zu verhindern. Neben den das Lagersystem prägenden körperlichen Misshandlungen und den unmenschlichen Lebensbedingungen wird er im Wege eines joint criminal enterprise II auch für die von Wächtern und Dritten an den wenigen inhaftierten Frauen begangenen Sexualstraftaten verantwortlich gemacht. Damit wurden Mejakić alle in Omarska nachweislich begangenen Straftaten zugerechnet.

     

    Gegen den Leiter einer der Wachdienstschichten Gruban lautete der Vorwurf der Beteiligung am joint criminal enterprise II ebenfalls darauf, Verbrechen von Wächtern und Dritten nicht verhindert zu haben und so das Funktionieren des Lagers Omarska gefördert zu haben. Über seine Wachdienstschicht hinaus wurden ihm jedoch die Verbrechen aus allen drei Schichten zugerechnet, also auch solche von Wächtern, über die er keine Kontrolle hatte. Ebenso wie bei Mejakić wurden auch die Sexualstraftaten, die andere Personen im Lager unter Ausnutzung des Klimas der Gewalt begangen hatten, zugerechnet.

     

    Mejakić und Gruban beteuerten, dass sie nicht in der Lage gewesen seien, gegen die Verbrechen einzuschreiten. Dem schenkte das Gericht aber keinen Glauben.

     

    Dem Angeklagten Knežević wurden ebenfalls sämtliche Misshandlungen, die nachgewiesenermaßen im Lager stattgefunden hatten, im Wege eines joint criminal enterprise II zugerechnet. Im Gegensatz zu den anderen Angeklagten hatte er jedoch keine offizielle Position im Lager Omarska inne. Er kam mit einigen Kumpanen jedoch regelmäßig nach Omarska und Keraterm und misshandelte dort ungehindert willkürlich Gefangene, teilweise bis zum Tod. Das Gericht begründete seine Beteiligung an dem Misshandlungssystem damit, dass die Gefangenen ihn mehr fürchteten als die Wächter und dass Knežević damit entscheidend zu einer Atmosphäre der Angst und des Terrors in den Lagern beitrug. Er sei daher als funktionell bedeutsames Element des Terrors im Lager anzusehen. Und da er an dem joint criminal enterprise II beteiligt war, mussten ihm konsequent auch alle davon umfassten Straftaten zugerechnet werden. Dieser Form der Beteiligung entspricht der Umschreibung des „opportunistischen Besuchers“ in einem Lagersystem, wie es in Rechtsprechung des ICTY entwickelt wurde. Im konkreten Fall geht das Gericht BiH aber über diese Rechtsprechung hinaus. Knežević soll aufgrund seiner von Sadismus geprägten brutalen Misshandlungen auch für die unmenschlichen Bedingungen in dem Lager haften, obwohl nur wenige Besuche im Lager nachgewiesen wurden und er an Gründung und Planung des Lagers nicht beteiligt war. Der ICTY hatte für die Feststellung, dass ein „opportunistischer Besucher“ dem joint criminal enterprise II angehört, höhere Anforderungen an die Zahl und die Dauer der Besuche im Lager gestellt.

     

    Im Ergebnis wurden alle Angeklagten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Beteiligung an einem joint criminal enterprise der Kategorie II verurteilt. Dies kombiniert das Gericht jedoch mit der nationalrechtlichen Zurechnungsfigur der Mittäterschaft und der völkerstrafrechtlichen command responsibility. Letztere tritt jedoch hinter den Vorwurf eines joint criminal enterprise II zurück.

     

    Der ursprünglich mitangeklagte Dušan Fuštar war von Mai bis August 1992 Leiter einer der Wachdienstschichten im Lager Keraterm. Er bekannte sich noch in der Hauptverhandlung für schuldig und schloss ein plea agreement mit der Staatsanwaltschaft. Der Vorwurf gegen ihn lautete, dass er die Verbrechen in den Lagern kannte und trotz seiner Möglichkeit, sie zu verhindern, nicht eingriff. Ihm werden jedoch nicht alle nachweislich im Lager Keraterm begangenen Verbrechen zur Last gelegt. Insbesondere das Massaker in Raum 3, bei dem geschätzt 200 Menschen starben, wird im Urteil nicht erwähnt. Rechtlich von Interesse ist an dem Urteil, dass das Gericht begründet, warum eine Verurteilung wegen Beteiligung an einem joint criminal enterprise II für ihn vorhersehbar gewesen sei, obwohl es sich dabei um zur Tatzeit ungeschriebenes Völkergewohnheitsrecht handelt. Zur Begründung zog das Gericht Art. 26 StGB SFRJ heran, nach dem als unmittelbarer Täter verantwortlich war, wer Mitglied einer Vereinigung war, in der durch ihre kriminelle Ausrichtung Straftaten begangen worden waren. Dem wird in der Literatur jedoch entgegengehalten, dass diese Norm dazu diente, Angriffe auf das sozialistische System von Jugoslawien zu kriminalisieren. Die Norm wurde nie angewendet.
    In der Strafzumessung ist für Dušan Fuštar auffällig, dass sich das Gericht BiH an dem Strafzumessungsurteil des ICTY im Fall Sikirica et al. orientierte, worin sich der ICTY wiederum an den Strafrahmen des StGB SFRJ orientiert hatte. Hieraus resultieren wesentlich niedrigere Strafen als nach den Strafrahmenvorgaben des StGB BiH eigentlich zu erwarten gewesen wären. Während das StGB BiH nach Art 42b eine Höchststrafe von bis zu 45 Jahren vorsieht, waren im StGB SFRJ (neben der nun nicht mehr anwendbaren Todesstrafe) für die einschlägigen Kriegsverbrechen nur Freiheitsstrafen bis 15 Jahre bzw. in Ausnahmefällen bei besonders schweren Taten bis 20 Jahren Freiheitsstrafe vorgesehen (Verbrechen gegen die Menschlichkeit kannte das StGB SFRJ nicht). Das waren erheblich niedrigere Strafrahmen als heute im StGB BiH vorgesehen. Sie blieben aber schon damals als Orientierungspunkte erhalten. Inzwischen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil Maktouf and Damnjanović (Beschwerden Nr. 2312/08 und 34179/08, Urteil vom 18. Juli 2013) auch klargestellt, dass bei den Tatbeständen, die es bereits im StGB SFRJ gab (Völkermord und Kriegsverbrechen) für jeden Einzelfall zu prüfen ist, ob die Verurteilung nach altem oder neuem Recht (StGB BiH) eine dem Angeklagten günstigere Verurteilung ergibt. Nur bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit entfällt dieser Vergleich, da es diesen Tatbestand früher nur ungeschrieben mit den entsprechend in der Höhe der zu verhängenden Freiheitsstrafen unbegrenzten Strafrahmen des Völkerstrafrechts gab (wie es vom ICTY angewandt wurde).

     

    Links:

     

    Erstinstanzliches Urteil

     

    Zweitinstanzliches Urteil

     

    Analysedokument

     

    Parallelverfahren:

     

    Dušan Fuštar (auf Grundlage eines plea agreements)

     

    Analysedokument zu dem Urteil gegen Dušan Fuštar

  • Musajb Kukavica et al. & Nisvet Gasal et al. - Bugojno

    Der Fall Nisvet Gasal et al. behandelt Kriegsverbrechen von muslimischen Polizei- und Militärangehörigen und Mitgliedern der Kriegspräsidentschaft in Bugojno an kroatischen Kriegsgefangenen im Ort Bugojno. Angeklagt waren Senad Dautović, Musajb Kukavica und Nisvet Gasal. Ursprünglich mitangeklagt war Enes Handžić, der sich allerdings frühzeitig auf ein plea agreement einließ.

     

    Nach der Kapitulation der Kroaten im bewaffneten Konflikt zwischen der Armee von Bosnien und Herzegowina (ARBiH) und dem Kroatischen Verteidigungsrat (HVO) in Bugojno im März 1994 wurden die kroatischen Kriegsgefangenen zu mehreren vorläufigen Haftorten und später in das Stadion „Iskra“ gebracht. Bei den vorläufigen Hafträumen handelte es sich um Räumlichkeiten in der Station der öffentlichen Sicherheit sowie um Kellerräume des sog. „Marxistischen Zentrums“, eines Gymnasiums und eines Möbelsalons. Diese waren allesamt nicht zur Beherbergung von Menschen geeignet. Die Gefangenen hatten keine ausreichende Versorgung mit Nahrung, Wasser, Licht, Luft und Hygiene. Während des dreimonatigen Aufenthalts kam es außerdem zu Misshandlungen und erzwungenen Blutspenden.

     

    Im Anschluss wurden die Gefangenen auf Beschluss der Kriegspräsidentschaft in das Stadion „NK Iskra“ verlegt. Dort blieben sie etwa acht Monate. Im Stadion gab es ausreichend Platz und auch die Versorgung mit Lebensmitteln und Hygiene wurde gewährleistet. Es kam aber weiterhin zu Misshandlungen durch Mitglieder der Militärpolizei, die das Lager bewachten. Auch mussten die Gefangenen Zwangsarbeit verrichten. Diese bestand darin, an der Front Schützengräben auszuheben und an und hinter Front Leichen und Kadaver wegzuschaffen und zu begraben.

     

    Der Angeklagte Nisvet Gasal war von September 1993 bis März 1994 Leiter des Lagers Stadion „NK Iskra“. Musajb Kukavica war Kommandant der Sicherheit im Lager. Der Vorwurf gegen sie lautete, als Mittäter Kriegsgefangene zu verbotener Zwangsarbeit verbracht zu haben.

     

    Der dritte Angeklagte Senad Dautović war Polizeichef der Station der öffentlichen Sicherheit in Bugojno. Ihm wurden Tötungen, Misshandlungen und Folterungen an Gefangenen zwischen Juli 1993 und November 1993 vorgeworfen. Die unterlegenen Kroaten hatten sich nach der Kapitulation bewusst Dautović (damals Polizeikommandant) ergeben, da er ihnen bei Kapitulation Schutz versprochen hatte. Er überließ sie jedoch direkt der ARBiH. Von der Militärpolizei wurden Gefangene dann getötet und gefoltert. Manche Misshandlungen erfolgten auch durch die Zivilpolizei, die Dautović unterstand. Eine Misshandlung ordnete er sogar selbst an.

     

    Einige Monate vor Erlass des zweitinstanzlichen Urteils erging das Urteil des EGMR in Maktouf & Damjanović v. Bosnien und Herzegowina, durch das festgelegt wurde, dass das Gericht BiH stets gesondert prüfen muss, ob die Strafrahmen des zur Tatzeit geltenden Rechts, also des StGB SFRJ (die lange abgeschaffte Todesstrafe außen vor gelassen), im Einzelfall milder sind als die des StGB BiH. Diese Frage wurde in Gasal et al. virulent, da sowohl das StGB SFRJ als auch das StGB BiH den Straftatbestand der Kriegsverbrechen gegen Kriegsgefangene enthalten.

     

    In erster Instanz wurden die Angeklagten Gasal und Dautović wegen Kriegsverbrechen gegen Zivilisten nach dem StGB BiH, teilweise begangen im Wege eines joint criminal enterprise, verurteilt. Die Verurteilung hatte jedoch keinen Bestand. Die zweite Instanz stellte auf den Kriegsverbrechenstatbestand aus dem StGB SFRJ mit seinem deutlich milderen Strafrahmen um. Ferner stellte sie fest, dass es sich bei den Gefangenen ausschließlich um Kriegsgefangene und nicht um Zivilisten gehandelt hatte. Anstatt auf joint criminal enterprise lautete der Vorwurf der Beteiligung ab der zweiten Instanz auf Mittäterschaft nach Art. 22 StGB SFRJ, teilweise durch Unterlassen. Hinsichtlich eines joint criminal enterprise befand die zweite Instanz , dass die Staatsanwaltschaft die erforderliche kriminelle Zweckvereinbarung nicht hinreichend nachgewiesen hätte, da von der Kriegspräsidentschaft vor Ort lediglich die Inhaftierung geplant worden sei, die bei Kriegsgefangenen aber rechtmäßig ist (Zivilisten wurden nach Auffassung der zweiten Instanz nicht inhaftiert). Diese Schlussfolgerung überzeugt allerdings angesichts der geschilderten Fakten nicht. Zwar hat die Kriegspräsidentschaft in ihren Beschlüssen offiziell scheinbar nur legale Tatsachen beschlossen, aber es war von vornherein ersichtlich, dass aus den geschaffenen Fakten Verbrechen an den Gefangenen folgen konnten und auch folgen würden. Nur hatte man die Verbrechen nicht zum offiziellen Teil der Beschlüsse gemacht. So muss man nach Betrachten des Sachverhalts davon ausgehen, dass die Angeklagten aus der Kriegspräsidentschaft von den unmenschlichen Haftbedingen, den Misshandlungen und der Zwangsarbeit nichts wussten oder bei Bekanntwerden sofort Gegenmaßnahmen eingeleitet hätten. Das legen die Tatsachenschilderungen im Urteil aber nicht nahe. Eher scheint es, als wären die Misshandlungen jedenfalls geduldet worden. Auch überrascht, dass die Verantwortlichkeit Dautovićs an der Grenze seiner offiziellen Zuständigkeit enden soll. Da er Teil der Zivilpolizei gewesen sei, könne er nicht für Handlungen der Militärpolizei verantwortlich gemacht werden, obwohl er selbst den Gefangenen Schutz versprochen und sie sodann an die Militärpolizei übergeben hatte.

     

    Dadurch, dass die Entscheidung der Kriegspräsidentschaft zur Inhaftierung rechtmäßig erging und eine kriminelle Zweckabrede verneint wurde, blieb als einzige Möglichkeit der Zurechnung, jeweils hinsichtlich der Einzelverbrechen zu prüfen, ob die Angeklagten von ihnen wussten und ob sie selbst unmittelbar beteiligt waren. Da dieser Nachweis in einem Lager-Misshandlungssystem schwer zu erbringen ist, blieb oft nur der Freispruch.

     

    Schwierigkeiten bei der Zurechnung werden bei dem Angeklagten Dautović auch in einem Fall der Zwangsarbeit hinter der Front aufgezeigt. Als Mitglied der Kriegspräsidentschaft war er an der Entscheidung beteiligt, dass Kriegsgefangene eingesetzt werden durften, um Leichen von Soldaten und Tierkadaver einzusammeln. Da es um Zwangsarbeit hinter der Front ging, war die Entscheidung an sich rechtmäßig. Jedenfalls dann, wenn man eine militärische Zwecksetzung der Arbeiten verneint und sie als nicht gesundheitsgefährdend einstuft. Die Gefangenen wurden während der Arbeiten aber durch Soldaten und Zivilisten misshandelt. Diese Misshandlungen (bis hin zu Tötungen) seien Dautović nach Ansicht der zweiten Instanz aber nicht zurechenbar gewesen. Dies gründe sich einerseits darauf, dass er nur Befehlsgewalt über die Zivilpolizei, nicht aber über Zivilisten und Militär hatte, die für die Misshandlungen verantwortlich waren, so dass keine Mittäterschaft oder Beihilfe durch Unterlassen angenommen werden konnte. Eine Zurechnung über joint criminal enterprise würde eine kriminelle Zweckabrede voraussetzen, die das Gericht BiH in zweiter Instanz aber konsequent verneint hat. Die Mitglieder der Kriegspräsidentschaft hätten augenscheinlich stets nur die rechtmäßigen Teile ihrer Anordnungen gewollt und beschlossen, ohne im Sinn zu haben, dass es in Ausführung dieser rechtmäßigen Aspekte (Inhaftierung, Verpflichtung zur Zwangsarbeit, Aufruf zu Blutspenden) zu zahlreichen Misshandlungen und Verstößen gegen das III. Genfer Abkommen kommen würde. Wie bereits bei den Verbrechen im Lager selbst, ist diese Prämisse angesichts der Dauer der Haft, der Tatsache, dass die Gefangenen offenkundig schlecht versorgt waren, und der Menge an Einzelverbrechen in den Unterkünften und bei der Zwangsarbeit zweifelhaft.

     

    Um einen Fall beispielhaft herauszugreifen: die erzwungenen Blutspenden. Die Kriegspräsidentschaft hatte zunächst über Blutmangel im örtlichen Krankenhaus beraten und einen Aufruf zu Blutspenden beschlossen. Unmittelbar darauf wurden die ersten Kriegsgefangenen direkt aus den Kellern zwangsweise ins Krankenhaus geführt und mussten gegen ihren Willen Blut spenden, oft mehr als das zulässige Volumen und ohne nachträgliche medizinische Versorgung (etwa durch zusätzliche Nahrungsmittel nach der Spende). Obwohl der Zusammenhang zwischen Beschluss und nachfolgendem Verbrechen offensichtlich scheint, meinte die zweite Instanz, dass der Polizeichef und Mitglied der Kriegspräsidentschaft Dautović nur in den Fällen verantwortlich sein konnte, in denen Mitglieder der Zivilpolizei die Gefangenen bewacht und zur Blutspende an Soldaten herausgegeben hatten. Der Vorwurf lautet darauf, dass er trotz Kenntnis des Beschlusses bzgl. des Blutmangels nichts unternommen hatte, um zu verhindern, dass die ihm unterstellten Polizisten die Gefangenen herausgaben. Er handelte als Mittäter durch Unterlassen. Wurden die Gefangenen aber von der Militärpolizei bewacht, so soll Dautović nicht verantwortlich gewesen sein. Eine Zurechnung der Taten, bei denen Dautović keinen Einfluss auf die einzelnen Blutabnahmen hatte nehmen können, könnte hier nur über ein joint criminal enterprise erfolgen, aber das gab es mangels Verbrechensabrede für das Gericht nicht. Das Gericht ging davon aus, dass die Kriegspräsidentschaft stets nur legale Wege der Blutbeschaffung diskutiert hätte, womit es an einer kriminellen Abrede fehlte. Wenn man aber davon ausgeht, dass Dautović um die Fälle von erzwungenen Blutspenden in den Räumen wusste, die von der Zivilpolizei bewacht wurden, drängt es sich auf, dass die Praxis der erzwungenen Blutentnahme in der Kriegspräsidentschaft auch beabsichtigt war oder zumindest schnell bekannt wurde, ohne dass die Verantwortlichen reagierten und diese Praxis beendeten.

     

    Im Fall von Dautović endete seine Verantwortlichkeit also stets, wenn auch seine offizielle Zuständigkeit endete. Dass ihn als Zivilpolizist generell Schutzpflichten treffen könnten, wenn andere die Verantwortung übernahmen, wird im Urteil nicht diskutiert.

     

    Das zweitinstanzliche Urteil in Gasal et al. ist insgesamt dadurch geprägt, dass individuelle Verantwortlichkeit aufgrund von Formalitäten verneint wird. Das verbrecherische Geschehen wird bei der Betrachtung der Arbeit der Kriegspräsidentschaft so gut wie ausgeblendet. Mit der Verneinung einer kriminellen Abrede der Mitglieder der Kriegspräsidentschaft wird es nahezu unmöglich, den einzelnen Angeklagten die im Misshandlungssystem begangenen Verbrechen zuzurechnen. Dass in der Kriegspräsidentschaft keinerlei Verbrechen geplant worden wären, wird wortwörtlich damit begründet, dass „einige kleinere Anstrengungen unternommen [wurden], um diese Bedingungen [der Haft] zu verbessern“ (Rn. 357). Es soll also für eine Freizeichnung von Verantwortung ausreichen, dass die Verbrechen und die Haftdefizite in irgendeiner Form diskutiert wurden. Aber trotz ins Auge springender menschenunwürdiger Verhältnisse hielt sich niemand für zuständig, etwas zu ändern. Das Gericht billigt dies.

     

    Ebenso unverständlich sind die milden Strafen. So erhielten Gasal und Kukavica eine Freiheitsstrafe von jeweils vier Jahren und Dautović eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren wegen Kriegsverbrechen gegen Kriegsgefangene gem. Art. 144 StGB SFRJ. Bei Dautović sticht hierbei noch heraus, dass ihm strafmildernd zugutegehalten wurde, dass er eine verantwortungsvolle Position ausübte und das Vertrauen der Bevölkerung hatte. Dies scheint sich dem Anschein nach auf seine Stellung als Polizist zu beziehen. Diesen Umstand dann aber als strafmildernd zu bewerten, ist angesichts der Tatsache, dass Dautović als Polizist auch den Opfern hätte Schutz gewähren müssen, anstatt sie den ihm bekannten Misshandlungen durch Militärpolizei und Soldaten zu überlassen, völlig unverständlich. Außerdem ist die Wertung der Polizeizugehörigkeit als strafmilderndes Moment nicht zu verstehen, wenn man das Verfahren Mejakić et. al betrachtet, in dem bei Mejakić die Stellung als aktiver Polizeibeamter gerade als strafschärfend beurteilt wurde, eben weil es seine Aufgabe gewesen wäre, Menschen zu schützen, nicht an ihnen Verbrechen zu begehen oder sie Verbrechen auszuliefern (Mejakić wurde zu 21 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt).

     

    Der frühere Mitangeklagte Enes Handžić ließ sich zu Beginn der Hauptverhandlung auf ein plea agreement mit der Staatsanwaltschaft ein. Er wurde wegen Kriegsverbrechen gegen Zivilisten durch Verbringung zur Zwangsarbeit, Misshandlung, Tötung und Folter gem. Art. 173 StGB BiH, begangen teilweise in Mittäterschaft, teilweise durch Beteiligung an einem joint criminal enterprise und teilweise durch command responsibility zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Er hatte zwar keine Funktion in der Kriegspräsidentschaft, führte aber als stellvertretender Kommandant der 307. Brigade der ARBiH Beschlüsse der Kriegspräsidentschaft aus. Ihm wurden teilweise auch gezielte Tötungen von Gefangenen vorgeworfen, die als Extremisten eingestuft wurden. Anders als in Gasal et al. blieb es hier bei dem ursprünglichen Vorwurf von Kriegsverbrechen gegen Zivilisten.

     

    Links:

     

    Aufhebungsentscheidung

     

    Zweitinstanzliches Urteil

     

    Analysedokument

     

    Parallelverfahren:

     

    Enes Handžić (auf Grundlage eines plea agreements)

  • Marko Radić et al. - Gefängnis Vojno bei Mostar

    Das Verfahren Radić et al. behandelte Verbrechen durch kroatische Militärangehörige an bosnisch-muslimischen Zivilisten. Angeklagt waren die kroatischen Militärangehörigen: Marko Radić, als militärischer Kommandant, Dragan Šunjić, als stellvertretender Kommandant des Gefängnisses Vojno, Damir Brekalo und Mirko Vračević, als Mitglieder des kroatischen Militärs. Die Anklage lautete auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen im Wege eines joint criminal enterprise II und in Mittäterschaft.

     

    Die Zivilisten (76 bosniakische Frauen, Kinder und ältere Menschen) wurden im Privatgefängnis „Vojno“ in Bijelo Polje in der Nähe von Mostar willkürlich inhaftiert. Sie wurden unter unmenschlichen Bedingungen in Häusern und anderen Einrichtungen des Dorfes festgehalten. Zusätzlich wurden bosniakische Männer aus dem Lager Heliodrom in einen Teil von Vojno (eine Garage und ein Keller) überführt, wo ebenfalls unmenschliche Bedingungen herrschten. Im Folgenden kam es zu andauernden Misshandlungen, auch Folter und Tötungen, durch die Wachen und Soldaten, infolge derer 16 Gefangene starben. Die Schuldsprüche aller Angeklagten zählen eine Vielzahl von Einzelverbrechen auf. Von der rechtswidrigen Inhaftierung der Zivilisten, über Misshandlungen, Morde und Zwangsarbeit bis hin zu Vergewaltigungen und anderen sexuellen Übergriffen.

     

    Die Angeklagten wurden in zweiter Instanz allesamt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen im Wege eines joint criminal enterprise II, und in Mittäterschaft verurteilt. Die kriminelle Abrede zu dieser großangelegten ethnischen Säuberung sah das Gericht zwischen der Gefängnisleitung und den für die Bewachung der Gefangenen verantwortlichen Personen getroffen. Auffällig ist aber, dass die Organisation des kroatischen Militärs (des kroatischen Verteidigungsrats = HVO) zu dieser Zeit anscheinend sehr kompliziert war. So war es möglich, dass ein Soldat mehreren Bataillonen angehörte. Möglicherweise waren die Zugehörigkeiten in den Unterlagen des Militärs auch falsch vermerkt, zumal viele neue Mitglieder die Organisation noch schlecht verstanden. Dies hat zur Folge, dass es im Nachhinein sehr schwierig ist, nachzuvollziehen, wer auf höheren Hierarchieebenen für welche Soldaten in der für die Verbrechensbegehung maßgeblichen Zeit verantwortlich war. Ohne diese Informationen ist aber auch nicht zu bestimmen, ob ein Vorgesetzter die Möglichkeit gehabt hatte, bestimmte Straftaten zu verhindern. Im vorliegenden Fall gab es immerhin eindeutige Schriftbeweise, sodass sich die skizzierte Beweisproblematik nicht in problematischen Ausmaßen stellte. Zwar wurden die Angeklagten alle dennoch verurteilt, was aber bleibt ist die Frage, von welcher Stelle aus eigentlich die Gründung der lokalen Gefängnisstruktur geplant und angeordnet wurde.

     

    Das zweitinstanzliche Urteil beschäftigt sich auch mit dem Konkurrenzverhältnis von joint criminal enterprise, command responsibility und Mittäterschaft. Die Beteiligungsform lautet am Ende auf Art. 29 StGB BiH (Mittäterschaft) i.V.m. Art. 180 StGB BiH (joint criminal enterprise). Zwar kann man joint criminal enterprise der Kategorie I grundsätzlich mit Mittäterschaft gleichsetzen, bei Radić et al. wurde aber wegen eines joint criminal enterprise der Kategorie II verurteilt. Es wird daher nicht ganz klar, wie das Gericht BiH in diesem Fall die Mittäterschaft versteht, da diese in BiH heutzutage im Sinne der Tatherrschaftslehre einen wesentlichen, eben täterschaftlichen Beitrag zur Tatbegehung verlangt und nicht wie früher in der SFRJ herrschend vertreten jeden Tatbeitrag, der irgendwie zur Tat beiträgt, als Mittäterschaftsbeitrag ausreichen lässt (in der SFRJ galt Mittäterschaft nur als eine Form der Beteiligung und war damit nicht mit Täterschaft i. S. des heutigen Rechts zu vergleichen). Hinsichtlich command responsibility erklärt das Gericht hingegen zutreffend, dass diese Form der Beteiligung subsidiär ist und damit im vorliegenden Fall neben der festgestellten individuellen Verantwortlichkeit aus Mittäterschaft und joint criminal enterprise II nicht zum Zuge kommen kann.

     

    Bezüglich der in Vojno begangenen Sexualstraftaten arbeitet das Gericht heraus, dass diese Taten Teil der kriminellen Zweckabrede und nicht Exzesse Einzelner waren. Dies wird dadurch belegt, dass die Frauen auch Soldaten zugeführt wurden, die selbst gar nicht vergewaltigen wollten und die Tat deshalb nur vorspiegelten.

     

    Das erstinstanzliche Urteil dieses Verfahrens wurde durch die Appellationskammer aufgrund schwerer Mängel aufgehoben, sodass es nicht übersetzt wurde. Ein Hauptaugenmerk des neuen Urteils der zweiten Instanz bildet die gelungene Subsumtion unter ein joint criminal enterprise II, die in der Anlage zusätzlich in einem gesonderten Dokument wiedergegeben wird.

     

    Links:

     

    Aufhebungsentscheidung

     

    Zweitinstanzliches Urteil

     

    Analysedokument

     

    Subsumtion unter joint criminal enterprise II

  • Boško Lukić und Marko Adamović - Ključ

    Der Fall Lukić & Adamović behandelt Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Nichtserben. Die Angeklagten Boško Lukić und Marko Adamović wirkten als Angehörige des serbischen Militärs an ethnischen Säuberungen an der nichtserbischen Zivilbevölkerung in der Gemeinde Ključ mit.

     

    Nachdem am 19. Dezember 1991 durch die bosnisch-serbische Führung die Machtübernahme der Serben in den ursprünglich ethnisch gemischten Gebieten vorgeplant worden war, kam es in zahlreichen strategisch wichtigen multiethnischen Gemeinden, u. a. in Ključ, zu ethnischen Säuberungen durch serbische Aktivisten. Die Gemeinde Ključ sollte als rein serbische Gemeinde Teil der „Autonomen Region Krajina“ werden. Der Angeklagte Lukić war zur Tatzeit Mitglied des örtlichen serbischen Krisenstabs und Kommandant des lokalen Stabs der Territorialverteidigung (TO). Bei dieser Abteilung der TO war der Angeklagte Adamović zunächst Reserveoffizier und später stellvertretender Kommandant. Auch Adamović war in die Arbeit des Krisenstabs involviert. Das Gericht gelangte zu der Überzeugung, dass beide Angeklagte alles daransetzten, die serbische Verfolgungspolitik in Ključ umzusetzen.

     

    Unmittelbar nach Einleitung des serbischen Angriffs kam es in den umliegenden Dörfern zu zahlreichen Massakern, auch an muslimischen Frauen und Kindern. Zu Beginn der Verfolgung ab dem 27. Mai 1992 wurden nichtserbische Zivilisten willkürlich inhaftiert und in Internierungslagern rechtswidrig festgehalten und schwer misshandelt. Mehrere Siedlungen in Ključ wurden mit Artillerie beschossen. Durch den Beschuss kamen 12 Zivilisten ums Leben, während die übrigen flohen. In anderen Siedlungen fanden Waffenrazzien statt. Teilweise wurden die muslimischen Männer auch ohne Vorwand rechtswidrig inhaftiert. Am. 1. Juni 1992 folgten dann zwei schwere Massaker. Muslimische Männer wurden aufgerufen, sich bei einem Sammelpunkt zusammenzufinden, wo sie ausgeraubt und daraufhin in einer Schule inhaftiert wurden. Abends wurden die festgehaltenen 78 Männer erschossen. Am selben Tag wurden die Bewohner im Dorf Prhovo gezwungen, sich vor einem Laden und dann im Vorgarten eines Hauses zu sammeln. Die Männer wurden ausgesondert und konsekutiv inhaftiert, misshandelt und getötet. Auf die Frauen und Kinder wurde bei Abtransport der Männer noch vor Ort das Feuer eröffnet. Mindestens 30 von ihnen starben.

     

    Den Angeklagten sollten die Taten im Wege eines joint criminal enterprise I zugerechnet werden. DIe Kammer in erster Instanz stieß in Anwendung dieser Zurechnungsmodalität aber auf große Subsumtionsprobleme, auch weil die Richter die Voraussetzungen von joint criminal enterprise I nicht richtig verarbeiteten. Sie versuchten, statt einer Subsumtion unter die Voraussetzungen von joint criminal enterprise I, die Tatbeiträge der Angeklagten unter ein joint criminal enterprise III zu subsumieren. Ein solches war jedoch der Anklageschrift nicht zu entnehmen, da die Staatsanwaltschaft ein joint criminal enterprise I geltend gemacht hatte. Als Folge dieser fehlerhaften Subsumtionsversuchelehnte das Gericht das Vorliegen der Voraussetzungen eines joint criminal enterprise III ab und sprach die Angeklagten frei, ohne auch nur versuchsweise auf andere Zurechnungsformen wie Mittäterschaft oder Beihilfe auszuweichen. Die erste Instanz erörterte insgesamt wesentliche Aspekte des joint criminal enterprise I überhaupt nicht. Das erstinstanzliche Urteil wurde sodann in zweiter Instanz vollständig aufgehoben und der Prozess auf der zweitinstanzlichen Tatsachenebene vollständig wiederholt. Der Tatsachenkammer in zweiter Instanz gelang die Subsumtion unter joint criminal enterprise I korrekt. Sie befand, dass die Angeklagten die Taten im Wege eines joint criminal enterprise I begangen hatten. Auffällig sind allerdings die sprachlichen Schwierigkeiten des Gerichts, das in der Subsumtion unter joint criminal enterprise I immer wieder auf die nationalrechtliche Terminologie der Mittäterschaft ausweicht, um die Tatbestandsvoraussetzungen des joint criminal enterprise zu umschreiben. Das zeigt, dass auch dann, wenn die völkerstrafrechtlichen Zurechnungsformen im Grundsatz verstanden wurden, ihre Anwendung im nationalen Kontext dennoch enorme (vor allem auch sprachliche) Probleme bereitet.     

           
    Auf eine anschließende Beschwerde hin, die zu den Tatsachenfeststellungen in weiten Teilen als unbegründet abgewiesen wurde, wurden die Strafen geringfügig gemildert.

    Links:

     

    Aufhebungsentscheidung

     

    Zweitinstanzliches Urteil

     

    Drittinstanzliches Urteil

     

    Analysedokument

     

    Abkürzungsverzeichnis

  • Nikola Andrun - Lager Gabela

    Dem Angeklagten Nikola Andrun wurde vorgeworfen, als Angehöriger des kroatischen Militärs und stellvertretender Leiter des Gefangenenlagers Gabela Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung als Mittäter begangen zu haben.

     

    Im Jahr 1992 war zunächst die serbische Bevölkerung aus der Gemeinde Čapljina vertrieben worden. Daraufhin kam es in der Gegend zu einem bewaffneten Konflikt zwischen dem Kroatischen Verteidigungsrat (HVO) und der Armee von Bosnien und Herzegowina (ARBiH). Im April 1993 sollen die ersten Muslime im Lager „Gabela“ inhaftiert worden sein, offiziell wurde es jedoch erst am 8. Juni 1993 eingerichtet. Gefängnisleiter war Boško Previšić, sein Stellvertreter der Angeklagte Nikola Andrun. Sie waren beide Angehörige der 1. Knež Domagoj Brigade des HVO. Der Brigadekommandant Obradović war (neben dem Informations- und Sicherheitschef) allein befugt zu entscheiden, wer das Lager betreten durfte. Obradović gestattete den Zutritt etwa Vernehmungsbeamten des militärischen Geheimdienstes. Die Brigade hatte es ebenfalls in der Hand, über die Versorgung mit Lebensmitteln und Medizin zu bestimmen, die Gefangenen zu bewachen und über ihre Freilassung zu entscheiden. Die Häftlinge waren nahezu ausschließlich Muslime, deren Status (als Zivilisten oder Kriegsgefangene) nicht geklärt wurde. Sie wurden in Hangars festgehalten und litten unter den unmenschlichen Haftbedingungen. Es gab zu wenig Platz, keine Möglichkeit, die körperliche Hygiene zu wahren, und keine medizinische Versorgung. DieLebensmittel waren unzureichend. Zusätzlich wurde den Häftlingen im Juni 1993 Wasser und Essen vorenthalten – als „Vergeltung“ für Verluste des HVO. Die Gefangenen wurden außerdem vielfach misshandelt, teilweise bis zum Tod.

     

    Dem Angeklagten Andrun wurden aber nicht die schlechten Haftbedingungen bzw. das Misshandlungssystem als solches vorgeworfen, obwohl er als stellvertretender Lagerleiter wohl durchaus auf das Lager als Ganzes hätte Einfluss nehmen können. Stattdessen erschöpft sich die Anklage im Vorwurf der Beteiligung Andruns als Mittäter an 13 Einzelverbrechen. Er wirkte bei Folterungen und zwei Morden persönlich mit. Ferner hatte er zusammen mit dem Gefängnisleiter Previšić die Gefangenen unmenschlich behandelt, indem er sie in Silos vor Mitarbeitern des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes versteckt hatte. Die Häftlinge wurden dadurch in große Angst versetzt, weil blutbedeckte Gegenstände in den Silos waren, Misshandlungen zu hören waren und sie die Möglichkeit schwinden sahen, Kontakt zu ihren Familien aufzunehmen. Das Gericht BiH urteilte, dass Andrun an diesen Vorfällen entscheidend mitgewirkt hat und daher als Mittäter im Sinne der Tatherrschaftslehre gem. Art. 29 StGB BiH anzusehen ist. Er hatte die Opfer entweder der Folter zugeführt oder selbst gefoltert. Ebenso führte er die Opfer persönlich zu ihrer Hinrichtung und verbrachte die Gefangenen persönlich in die Silos.

     

    Auch wenn für die 13 angeklagten Einzelverbrechen die Mittäterschaft Andruns erwiesen ist und es insoweit nicht des Nachweises eines joint criminal enterprise bedarf, stellt sich aber die Frage, ob dem Angeklagten als stellvertretendem Lagerleiter nicht auch weit mehr Verbrechen hätten zugerechnet werden können. Das Gericht verweist insoweit darauf, dass die Anklagebehörde kein organisiertes Misshandlungssystem im Lager Gabela dargelegt hätte. Wäre Andrun an einem joint criminal enterprise II beteiligt gewesen, wäre er auch für das Verbrechen des Festhaltens der Zivilisten unter unmenschlichen Bedingungen verantwortlich. Ebenso für Verbrechen, die andere Funktionäre im Lager mit Wissen Andruns im Lager begangen hatten. Dies würde auch der Rechtsprechung des Gerichts BiH im Verfahren Mejakić et al. entsprechen, nach der am Lagersystem Beteiligte für alle innerhalb des Lagersystems begangenen Verbrechen mit verantwortlich sind, solange sich die Taten im Rahmen der kriminellen Zweckabrede bewegen. Mit 14 Jahren Freiheitsstrafe fiel die Strafe für Andrun zwar trotzdem hoch aus, allerdings bleibt die faktische Aufklärung des Falles damit weitgehend auf der Strecke. Im Verfahren Andrun selbst erfährt man nichts über den Tatplan im Hintergrund. Es wird daher keine wirkliche Erklärung für die Massengewalt geliefert. Diese Lücke wurde vielmehr nur durch den ICTY im Parallelverfahren Prlić et al. ausgefüllt.

     

    Die Ausführungen im Wiederaufnahmeurteil zu der Anwendbarkeit von joint criminal enterprise sind überraschend: Nach Ansicht der Kammer soll joint criminal enterprise nur anwendbar sein, wenn eine Zurechnung nach überkommenen nationalrechtlichen Zurechnungsmechanismen nicht möglich ist. Da Andrun hier als Mittäter schuldig gesprochen wurde, sei der Vorwurf der Beteiligung an einem joint criminal enterprise subsidiär. Das lässt sich jedenfalls nicht aus der Rechtsprechung des ICTY ableiten, sondern gilt allenfalls spezifisch für die Rechtslage in Bosnien und Herzegowina. Eine Subsidiarität kann ohnehin nur dann infrage kommen, wenn hinsichtlich eines Vorwurfs mehrere Beteiligungsmodalitäten in der Person Andruns erfüllt sind. Das heißt, das Gericht hätte zur Annahme von Subsidiarität von joint criminal enterprise II diese Beteiligungsmodalität und die Reichweite der Zurechnung über diese Zurechnungsmodalität zunächst konkret prüfen müssen. Wenn dann hrausgekommen wäre, dass hinsichtlich weiterer Verbrechen im Misshandlungssystem eine Verurteilung Andruns als Beteiligter eines joint criminal enterprise II ohne weiteres möglich gewesen wäre, gleichzeitig aber die Voraussetzungen der Mittäterschaft nicht vorgelegen hätten (weil diese Tatherrschaft über die Tatausführung, nicht allein eine Beteiligung an der kriminellen Zweckabrede verlangt), so wäre in den „Konkurrenzen“ der Beteiligungsformen nur die Zurechnung über joint criminal enterprise II übrig geblieben. Insgesamt war es also ein Fehler, dass das Gericht diese erweiterte Zurechnung gar nicht geprüft hat.

     

    Unterstellt, dass Andrun keinerlei Gestaltungsmöglichkeiten im Lager Gabela hatte und an keiner diesbezüglichen Zweckabrede teilgenommen hat und er daher nicht per joint criminal enterprise II für die unmenschlichen Haftbedingungen etc. verantwortlich gemacht werden könnte, so hätte das Gericht doch zumindest die Frage erörtern müssen, ob ihm die Verbrechen der anderen in andere Form zurechenbar sind, z. B. über Beihilfevorwürfe. Dass das Gericht dies nicht einmal versucht hat, mag aber auch durch einen unzureichenden Anklagevortrag begründet sein, der keine ausreichende Tatsachengrundlage schilderte, um ein organisiertes Misshandlungssystem im Lager Gabela darzulegen. Die Frage ist dann eher, warum die Anklage nur diesen reduzierten, auf wenige Verbrechen beschränkten Vortrag vorgelegt hat. In anderen Verfahren vor dem Gericht BiH waren die Tatsachenvorträge zu Gefangenenlagern definitiv ausführlicher.

     

    Das erstinstanzliche Urteil wurde wegen Mängeln in der Beweiswürdigung, in der Begründung und der Subsumtion vollständig aufgehoben. In zweiter Instanz wurde Andrun zu 18 Jahren Freiheitsstrafe wegen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung (Art. 173 StGB BiH) verurteilt, begangen im Wege der Mittäterschaft (Art. 29 StGB BiH). Folgend auf das Urteil des EGMR in Maktouf und Damjanovic erhob Andrun jedoch daraufhin erfolgreich Verfassungsbeschwerde: Da der Tatbestand der Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung bereits im zur Tatzeit geltenden StGB SFRJ enthalten war, musste aufgrund der lex-mitior-Regel der Tatbestand des StGB SFRJ mit seinen milderen Strafrahmen anstelle des Tatbestands im StGB BiH zur Anwendung kommen. Infolgedessen wurden die Rechtsgrundlagen des Urteils abgeändert (nunmehr Art. 142 i. V. m. Art. 22 StGB SFRJ) und die Strafe von 18 auf 14 Jahre nach unten hin angepasst (die Höchststrafe nach dem StGB SFRJ beträgt im Regelfall 15 Jahre; bei besonders schweren Verbrechen seit der Abschaffung der Todesstrafe 20 Jahre).

     

    Links:

     

    Aufhebungsentscheidung

     

    Zweitinstanzliches Urteil

     

    Neues zweitinstanzliches Urteil im Anschluss an die Verfassungsbeschwerde Andruns

     

    Analysedokument

  • Ivan Zelenika et al. - Mostar und Dretelj

    Das Verfahren Zelenika et al. behandelt Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen im Wege eines joint criminal enterprise II durch Angehörige des kroatischen paramilitärischen Verbundes „Kroatische Verteidigungskräfte“ (HOS) an mehr als hundert serbischen Zivilisten in den Gefangenenlagern in der Militärambulanz Mostar und später der Kaserne „Bruno Bušić“ in Dretelj.

     

    Die Angeklagten bekleideten keine hohen Ränge in den HOS, hatten aber teilweise wichtige Funktionen in den Gefängnissen inne: Edib Buljubašić war stellvertretender Kommandant der Kaserne „Bruno Bušić“, Ivan Zelenika der „De-facto-Leiter“ des Gefängnisses in der JNA-Militärambulanz Mostar. Als Kommandant des Militärgefängnisses in Dretelj war der Angeklagte Srećko Herceg angeklagt, der aber später freigesprochen wurde, weil er vermutlich die gesamte Zeit über woanders Dienst getan hatte. Ivan Medić und Marina Grubišić-Fejzić waren Wachleute in diesem Gefängnis.

     

    Das Gericht BiH hat in diesem Verfahren versucht, die Hintergründe der paramilitärischen HOS so weit wie möglich aufzuklären. Ursprünglich handelte es sich um den militärischen Arm der faschistischen Partei HSP in Kroatien. Aber in Kroatien waren sie – ebenso wie die Partei – schnell verboten worden. Die im vorliegenden Tatgeschehen handelnden HOS wurde Anfang 1992 von dem bosnischen Kroatien Blaž Kraljević in Bosnien neugegründet und hatten keine Verbindung mehr zur HSP. Stattdessen strebten die kroatischen und auch muslimischen Mitglieder der HOS in Bosnien einen Kampf gegen die serbischen „Tschetniks“ an. Dies geschah zu Anfang in Zusammenarbeit mit den offiziellen kroatischen Streitkräften (HVO), später jedoch wurden Zerwürfnisse zwischen HVO und HOS sehr deutlich. So wurde Kraljević im August 1992 ermordet – mutmaßlich auf Befehl der HVO-Führung, da die HOS andere militärische Interessen als der HVO hatten. Was die Ziele der HOS genau beinhalteten, blieb auch im Urteil unklar, denn eine eindeutige politische Zielsetzung konnte das Gericht nicht erkennen. Allerdings hingen die HOS nach der Neugründung der Ustaša-Ideologie an, was vor den muslimischen Mitgliedern aber möglichst verborgen wurde.

     

    Die angeklagten Straftaten wurzelten in einer gemeinsamen kriminellen Abrede zwischen den Angeklagten Buljubašić und Zelenika mit weiteren Funktionären der HOS, auch dem „Kommandanten“ Kraljević. Die Abrede hatte zum Ziel, die serbische Bevölkerung aus Mostar, Stolac und Čapljina zu vertreiben (und dabei offenbar aus Geiselnahmen und Plünderungen persönlichen Gewinn zu schlagen).

     

    Die Zivilisten wurden illegal inhaftiert und waren in ihrer Haft im Lager Dretelj unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt. Insbesondere die Männer wurden ununterbrochen geschlagen, Essen und Trinken waren nicht ausreichend vorhanden, Hygiene war überhaupt nicht gewährleistet. Die weiblichen Gefangenen wurden regelmäßig vergewaltigt. Schließlich wurden Gefangene gedemütigt und zu sinnlosen Zwangsarbeiten herangezogen (wie dem Ausreißen von scharfkantigem Gras mit bloßen Händen). Nicht angelastet wurde den Angeklagten allerdings, dass sie an einem joint criminal enterprise II zur Zwangsumsiedlung, zur Errichtung der Gefängnisse und der illegalen Inhaftierung und Vertreibung beteiligt gewesen wären. Nach Ansicht des Gerichts wurden diese Entscheidungen nur auf der Führungsebene der HOS getroffen, zu der die Angeklagten selbst nicht gehörten, sodass die Angeklagten lediglich für die Misshandlungen in den Lagern verantwortlich seien.

     

    Das erstinstanzliche Urteil zeigt auf, in welchem Maße es möglich ist, über joint criminal enterprise II Verbrechen zuzurechnen. Dieselben Tatsachenfeststellungen werden immer wieder verwendet, um die verschiedenen Elemente des joint criminal enterprise zu belegen. Dies ist nicht rechtsfehlerhaft, zeigt aber, dass das bloße „Mitmachen“ ausreicht, um für zahlreiche Einzelverbrechen individuell verantwortlich zu sein. Die Angeklagten waren an den Haftorten anwesend und haben trotz Kenntnis vom verbrecherischen Charakter des dortigen Misshandlungssystems an diesem mitgewirkt. Bei Buljubašić und Zelenika kam ferner dazu, dass sie Soldaten von außen in das Lager ließen, die die Häftlinge dann misshandelten. Aus diesen objektiven Tatbeiträgen leitet das Gericht sodann ab, dass die Angeklagten das System bewusst förderten und damit Teil der kriminellen Zweckabrede waren. Da die Angeklagten auch persönlich Häftlinge misshandelt hatten, konnte das Gericht auch den Vorsatz der Angeklagten ohne weiteres aus dem objektiven Tatgeschehen ableiten. Dass die Angeklagten tief in das System verstrickt waren, zeigt sich auch dadurch, dass sie andere HOS-Soldaten als „Vorbild“ zu ähnlichen Verbrechen verleitet hatten.

     

    Anders als im Fall Mejakić et al. wurden aber nicht pauschal alle Verbrechen, die in den Lagern begangen worden waren, allen Angeklagten zugerechnet. Alle wurden zwar wegen Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gem. Art. 172 Abs. 1 lit. h) StGB BiH, begangen im Wege eines joint criminal enterprise II (Art. 180 Abs. 1 StGB BiH) schuldig gesprochen (mit Ausnahme des freigesprochenen Herceg), hinsichtlich der ansonsten vorliegenden Verbrechen aus dem Katalog der Verbrechen gegen die Menschlichkeit aber nur bezüglich der Taten, an denen sie tatsächlich persönlich beteiligt waren. So wurde nur Buljubašić wegen eines Mordes im Lager (Art. 172 Abs. 1 lit. a) StGB BiH) verurteilt und Zelenika und Buljubašić wurden keine Sexualstraftaten (Art. 172 Abs. 1 lit. g) StGB BiH) angelastet.

     

    Neben dem Vorwurf einer Tatbegehung im Wege eines joint criminal enterprise II hatte die Anklageschrift ursprünglich auch den Vorwurf einer command responsibility gegen einzelne Angeklagte geltend gemacht. Diesen Vorwurf verwarf die Kammer allerdings, da er nicht hinreichend substantiiert vorgetragen worden sei. Im Übrigen wäre die Vorgesetztenverantwortung ohnehin zum bejahten Vorwurf einer Beteiligung an einem joint criminal enterprise II subsidiär. Nur hinsichtlich des Angeklagten Zelenika stellte das Gericht fest, dass bei ihm aufgrund seiner Stellung als De-Facto-Lagerleiter Vorgesetztenverantwortlichkeit zu bejahen wäre. Dieser zusätzliche Vorwurf wurde dann in der Strafzumessung strafschärfend berücksichtigt.

     

    Ebenfalls ein interessanter Aspekt des Verfahrens ist, dass die Persönlichkeit der Täter herausgearbeitet wird. Das Gericht beschreibt, wie die Angeklagten durch Zufall Macht über die Gefangenen bekommen hatten. Diese Macht zu manifestieren, wurde dann der Antrieb zu immer mehr Gewalttaten. Auch bildete sich bei den Angeklagten teilweise der Eindruck, es sei ihr Recht, über die Gefangenen und ihr Hab und Gut zu entscheiden. So erklärte Buljubašić vor Gericht, dass er enttäuscht darüber gewesen sei, dass die Gefangenen bereits bei ihrer Ankunft im Lager so ausgeplündert worden seien, dass für ihn nichts mehr übrigblieb. Auch wird deutlich, dass die Angeklagten Buljubašić, Medić und Grubišić-Fejzić psychisch labil waren. Edib Buljubašić, der schon 1991 mutmaßlich wegen eines Tötungsdelikts zu einer Freiheitsstrafe zu 34 Jahren verurteilt worden war, verbüßte bis zu dem Beginn des bewaffneten Konflikts Sicherheitsmaßnahmen in einem psychiatrischen Krankenhaus. Er kam jedoch frei, weil er sich freiwillig an die Front meldete. Medić vergewaltigte eine Frau, die später als Zeugin aussagte. Der Angeklagte hatte zur Tatzeit ständig ihre Nähe gesucht und sie mit sinnfreien und widersprüchlichen Geschichten über sich selbst belästigt. Die Verteidigung brachte eine Krankheitsdiagnose Medićs als Beweismittel bei, die Diagnose wurde jedoch im Urteil unkenntlich gemacht. Marina Grubišić-Fejzić zwang männliche Gefangene zum Oralsex miteinander und forderte sie auf, mit ihr intim zu werden. Unabhängig von der Antwort der Gefangenen misshandelte sie sie daraufhin schwer. Ein Opfer wurde infolgedessen zeugungs- und beischlafsunfähig. Später wertete das Gericht ihre Jugend und ihre Beeindruckbarkeit als strafmildernde Faktoren.

     

    Auffällig sind schließlich die Erwägungen in der Strafzumessung. Teilweise wird als mildernd angesehen, dass sich die Angeklagten bei den Opfern entschuldigt hätten oder sie mittlerweile selbst eine Familie gegründet hätten. Letzteres ist unstreitig kein Milderungsgrund. Buljubašić wird als mildernder Umstand zugestanden, dass er in der Armee war. Auf diese dünne und fehlerhafte Strafzumessung hin ergingen Freiheitsstrafen von fünf bis sieben Jahren, was im Angesicht der schweren Verbrechen äußerst milde erscheint. Die Strafzumessung wurde durch die Staatsanwaltschaft gerügt, die Rüge in der Appellationsinstanz jedoch mit der pauschalen Begründung abgewiesen, die Kammer müsse lediglich eine Gesamtbetrachtung vornehmen und habe dies vorliegend auch getan.

     

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    Erstinstanzliches Urteil

     

    Zweitinstanzliches Urteil

     

    Analysedokument

  • Mitar Rašević und Savo Todović - KP Dom Foča

    Den Angeklagten Mitar Rašević und Savo Todović wurde vorgeworfen, in der serbischen Haftreinrichtung KP Dom Foča zwischen April 1992 und Oktober 1994 Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Wege eines joint criminal enterprise II an den inhaftierten Nichtserben begangen zu haben. Das Verfahren war eines der ersten vor dem Gericht BiH, in denen joint criminal enterprise zur Anwendung kam. Im Lager bekleidete der Angeklagte Rašević die Position des Wachdienstkommandanten und der Angeklagte Todović die des stellvertretenden Leiters der Haftanstalt. Der Kommandant des Lagers, Milorad Krnojelac, war bereits im Jahr 2002 bzw. 2003 vor dem ICTY verurteilt worden.

     

    Das Gericht stellte zu dem tatsächlichen Geschehen fest, dass das Ziel der vorliegenden gemeinsamen kriminellen Unternehmung war, alle Muslime und sonstigen Nichtserben auf dem Gebiet von Foča zu inhaftieren, zu versklaven, festzuhalten, teilweise zu ermorden oder verschwindenzulassen und letztendlich dauerhaft aus der Region zu entfernen. Diese Zielsetzung bezog sich im Grunde auch auf Frauen und Kinder, diese wurden aber nicht im KP Dom festgehalten oder jedenfalls unmittelbar nach Montenegro gebracht. Im vorliegenden Fall geht es demnach um Verfolgungsverbrechen an nichtserbischen Männern, in Form Inhaftierung unter unmenschlichen Bedingungen, durch zwangsweises Verschwindenlassen, Mord, Folter und Misshandlungen. Beteiligt an dieser Unternehmung waren nach Erkenntnis des Gerichts neben den Angeklagten und dem übrigen Gefängnispersonal auch die Mitglieder der Jugoslawischen Volksarmee (JNA), die serbische Territorialverteidigung, die Polizei der Republika Srpska und Paramilitärs aus Foča. Dieses weite Feld an Beteiligten resultiert daraus, dass viele Verbrechensentscheidungen nicht durch die Lagerleitung, also den Kreis um die Angeklagten, sondern durch die Führung der örtlichen Militär- und Polizeibehörden getroffen wurden. Die Angeklagten hatten insbesondere keinen Einfluss darauf, wer inhaftiert, verhört oder verschwinden gelassen wurde. Die Aufgabe der Gefängniswärter beschränkte sich dabei darauf, die bereits ausgewählten Opfer den Verhören zuzuführen. Auch das unter dem Vorwand eines Gefangenenaustauschs durchgeführte zwangsweise Verschwindenlassen wurde von der Armee oder der Militärpolizei durchgeführt.

     

    Der Plan, die nichtserbische Bevölkerung zu vertreiben, gliederte sich in zwei Phasen. Zuerst sollten die Nichtserben inhaftiert und im KP Dom unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten werden. Zu der ersten Phase zählen auch die Folterungen und Misshandlungen im Lager und bei den Verhören. Die Gefangenen wurden gezielt nach Waffen und Verdächtigen gefragt und in Kategorien eingeteilt. Die zweite Phase bildeten die Ermordung der Gefangenen im Gefängnis bzw. das Verschwindenlassen derjenigen Inhaftierten, die als gefährlich eingestuft wurden. Diejenigen, die nicht als gefährlich galten, wurden auf nichtserbisches Gebiet zwangsüberführt.

     

    Dem Anschein nach beruhte die Gründung des KP Dom neben dem Vertreibungsplan auch auf einer militärischen Entscheidung. Die sog. „Taktische Gruppe Foča“, ein Organ der Republika Srspka, wurde regelmäßig durch serbische Militäreinheiten kontaktiert, um nichtserbische Gefangene aus dem KP Dom gegen gefangene Serben auszutauschen. Zu Beginn des Funktionierens des Lagers im April 1992 wurde es auch zunächst durch das Militär bewacht.

     

    Auch ohne konkrete Tatbeiträge und konkrete Planung der Angeklagten zu den übrigen Verbrechen wurden Rašević und Todović im Wege eines joint criminal enterprise II für diese verantwortlich gemacht. Ihr Tatbeitrag lag im Festhalten der Opfer unter unmenschlichen Bedingungen und unter stetiger Misshandlung durch die Wachen im KP Dom. So trafen die Angeklagten und der Leiter des Gefängnisses Krnojelac zwar keine Entscheidungen über Inhaftierungen, Deportationen oder Morde, sorgten aber dafür, dass das Gefängnis als Dreh- und Angelpunkt der Verbrechen stets funktionsfähig blieb. Im Vergleich zu dem vorangegangenen Verfahren Zelenika et al. fällt auf, dass die Verantwortlichkeit der Angeklagten hier wesentlich weiter gezogen wird. So wurden Rašević und Todović vorliegend alle Verbrechen zugerechnet, die mit der Inhaftierung auf irgendeine Weise verknüpft waren, obwohl die Angeklagten nachweislich auf die meisten Entscheidungen für die durch die Einheiten begangenen Verbrechen keinerlei Einfluss hatten. Die Begründung für diese weite Zurechnung bilden die Wichtigkeit des Funktionierens des Lagers für den Verfolgungsplan und die ausnahmslose und systematische Festnahme aller nichtserbischen Männer. Einen derartigen Organisationsgrad gab es bei dem Lagerfall Zelenika et al. nicht.

     

    Im Gegensatz zu überkommenen nationalrechtlichen Formen der Täterschaft und Teilnahme bedarf es für die Beteiligung als Täter an einem joint criminal enterprise II keiner Förderung oder entscheidenden Mitwirkung an einer konkreten Einzeltat. Vielmehr genügt es, das System der kriminellen Zweckabrede irgendwie zu fördern, um Täter zu sein. Was für Konsequenzen diese Form der Beteiligung hat, zeigt sich beim Angeklagten Rašević, den viele der Gefangenen eher als Helfer denn als Peiniger wahrgenommen hatten. Das Gericht begründet die Verantwortlichkeit Raševićs damit, dass er die Aufsicht über mindestens 37 Wärter ausübte und durch die Ausübung seiner Rolle als Wachdienstkommandant das Funktionieren des Gefängnisses sicherstellte. Allerdings konnte nicht nachgewiesen werden, dass er selbst gewalttätig war. Vielmehr berichteten Zeugen, dass er den Gefangenen beistand und half, etwa indem er Medikamente und andere Hilfsgüter besorgte, Häftlinge in das Krankenhaus begleitete und die Familien von Gefangenen informierte. Bei Rašević handelt es sich daher um einen reinen Mitläufer, der seine Arbeit gewissenhaft erfüllen wollte und dadurch das Misshandlungssystem aufrechterhielt, auch wenn er selbst keine kriminellen Ambitionen hatte.

     

    Den Angeklagten wurde auch vorgeworfen, für das Verschwindenlassen vieler Häftlinge kurz vor der Evakuierung des Lagers verantwortlich zu sein. Dies hat zwar tatsächlich stattgefunden, wurde jedoch nicht einmal dem ranghöheren Kommandanten Krnojelac (verurteilt vor dem ICTY) vorgeworfen, da er anscheinend nicht gewusst hat und auch nicht hat beeinflussen können, welche Häftlinge ausgewählt und welche darauf auch getötet werden sollten. Anscheinend gab es also eine dezentralisierte Verteilung von Wissen und Befugnissen im Lager Foča. Zwar muss aufgrund dessen, dass es tatsächlich zum Verschwindenlassen kam, jemand davon gewusst haben, die Beweisführung des Gerichts im vorliegenden Fall ist allerdings Zweifeln ausgesetzt. So muss das Gericht für diesen Vorwurf nachweisen, dass die Angeklagten davon wussten, dass die abgeführten Häftlinge ermordet werden sollten. Da das Verschwindenlassen außerhalb des KP Dom geschah, konnte die Vermutungsregel von joint criminal enterprise II, dass generelle Kenntnis über die Verbrechen im Lager bestand, eigentlich nicht angewendet werden. Ferner standen die Mordvorgänge (nach Abholung der Häftlinge aus dem KP Dom) unter alleiniger Kontrolle der Militärbehörden.

     

    Überdies hatte das Gericht im vorliegenden Fall Probleme mit dem Verhältnis der Zurechnungsmodalitäten zueinander. Die auch in späteren Urteilen anzutreffende Kombination aus joint criminal enterprise und Mittäterschaft ist in der Anklageschrift zum ersten Mal zu finden. Infolgedessen prüfte das Gericht auch die Voraussetzungen beider Modalitäten, was die Schwelle zur Annahme eines joint criminal enterprise sogar erhöhte, indem ein „wesentlicher“ Tatbeitrag anstatt eines bloßen Förderbeitrags verlangt wird. Diese Kombination aus joint criminal enterprise und Mittäterschaft wird inhaltlich nicht erklärt und auch in späteren Verfahren weitergeführt. Es besteht daher die Möglichkeit, dass die Richter am Gericht BiH die Figur des joint criminal enterprise als Zurechnung eigener Art nicht richtig verstanden haben. Zusätzlich seien die Angeklagten aufgrund von command responsibility für die Verbrechen verantwortlich gewesen. Diese Beteiligungsform lässt die erste Instanz in den Urteilsgründen zutreffend als subsidiär zurücktreten, im Tenor aber erscheint sie dennoch. Dies führte dazu, dass die Berücksichtigung der command responsibility als strafschärfender Faktor einen Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot darstellt. Dieser Fehler wurde später von der zweiten Instanz korrigiert.

     

    Zur Anwendbarkeit der völkerstrafrechtlichen Zurechnungsmodalitäten äußerte sich die erste Instanz ausführlich. Als Begründung wird angeführt, dass die Modalitäten aus Art. 7 Abs. 1 und 3 ICTY-Statut in Art. 180 StGB BiH nachgebildet wurden. Das Gericht bezeichnet das aber missverständlich als „inkorporieren“. Dann würden die Verurteilungen aber einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot bedeuten. Vielmehr muss darauf abgestellt werden, dass die Zurechnungsmodalitäten bereits zur Tatzeit Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts waren. Dass joint criminal enterprise und command responsibility schon zur Zeit des Jugoslawienkriegs in der innerstaatlichen Rechtsordnung galten, begründet das Gericht sodann mit Art. 210 der Verfassung der SFRJ, nach dem das Recht der Verträge des humanitären Völkerrechts einschließlich der Martens’schen Klausel unmittelbarer Bestandteil der innerstaatlichen Rechtordnung der SFRJ war. Das Gleiche gelte dann auch für das aus den Verträgen entstandene Völkergewohnheitsrecht. Als weiteren Begründungsstrang führt das Gericht Art. 7 Abs. 2 EMRK an, der zulässt, dass „jemand wegen seiner Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war“. Die EMRK findet gem. Art. II Nr. 3 Verfassung BiH in Bosnien und Herzegowina unmittelbare Anwendung.

     

    In der zweiten Instanz wurde die Auslegung, dass joint criminal enterprise einen „wesentlichen“ Tatbeitrag des Täters verlangt, korrigiert. Sodann verwirrt aber, dass die zweitinstanzliche Kammer versucht, durch einen Vergleich mit der Beihilfe zu begründen, warum ein Beteiligter an einem joint criminal enterprise zwar nur Tatbeiträge vom Gewicht eines Gehilfenbeitrags erbringen muss, dann aber als Täter gilt. Auch hier hält das Gericht die Kombination der Terminologie von nationalrechtlichen Zurechnungsfiguren und joint criminal enterprise aufrecht.

     

    Links:

     

    Erstinstanzliches Urteil

     

    Zweitinstanzliches Urteil

     

    Analysedokument

  • Milorad Trbić - Srebrenica

    Der Angeklagte Milorad Trbić war zur Tatzeit Assistent für Sicherheitsangelegenheiten der Zvornik-Brigade im Rang eines Kapitäns 1. Klasse und in dieser Funktion beteiligt am Völkermord von Srebrenica. Ihm wurde vorgeworfen, sich im Wege eines joint criminal enterprise I an dem Völkermord an tausenden bosniakischen Zivilisten beteiligt zu haben. Ursprünglich sollte Trbić – wie die Hauptverantwortlichen Karadžić, Mladić und weitere – vor dem ICTY abgeurteilt werden. Infolge der ICTY-completion strategies, nach denen angesichts der bevorstehenden Schließung des ICTY (geplant damals zum Jahr 2010) weniger bedeutsame Verfahren an nationale Gerichte überwiesen wurden, wurde das Verfahren allerdings an das Gericht BiH verwiesen.

     

    Zwischen dem 11. und 20. Juli 1995 kam es in Srebrenica an zahlreichen verschiedenen Orten zu Völkermordhandlungen der Armee der Republika Srpska (VRS) an muslimischen Jungen und Männern. Ab Ende September 1995 begannen dann die Versuche der VRS, den Völkermord durch Umbettung der Leichen aus den Massengräbern in dem Zuständigkeitsbereich der Zvornik-Brigade zu verschleiern. Trbić wird die Beteiligung an einer Vielzahl dieser Handlungen vorgeworfen in der Weise, dass er unter enormem Kraftaufwand und überaus effizient das Gelingen des Völkermords sicherstellte. Zwar befand er sich selbst eher in einer untergeordneten militärischen Position (zunächst Kapitän 1. Klasse und sodann außerordentlich zum operativen diensthabenden Offizier der Zvornik-Brigade ernannt), allerdings war er für die Kommunikation zwischen der Spitze der VRS und den Einheiten vor Ort zuständig und nahm dadurch eine zentrale koordinierende Rolle im Plan ein.

     

    Nach mehrjähriger Belagerung wurde die UN-Schutzzone Srebrenica am 6. Juli 1995 von der VRS unter schweren Granatbeschuss gesetzt und daraufhin am 11. Juli gestürmt. Die muslimische Bevölkerung floh größtenteils in die Stadt Srebrenica, während sich eine Kolonne aus über 10.000 Männern und Jungen in Richtung Nordosten bewegte, um vor der VRS zu fliehen. Aus dieser Gruppe überlebte später höchstens die Hälfte; darunter vor allem diejenigen, die über die Straße Barunac-Konjević fliehen konnten.

     

    Ab dem Abend des 11. Juli kam es dann zu mehreren Treffen zwischen der VRS-Führungsebene, der Führung der stationierten niederländischen UN-Blauhelm-Soldaten und teilweise einem Vertreter der muslimischen Bevölkerung (dafür hatte sich ein Schulrektor bereiterklärt), der allerdings für die Serben im Grunde nur dazu dienen sollte, Anweisungen an die muslimische Bevölkerung weiterzugeben. Ursprünglich wurde durch General Ratko Mladić persönlich zugesichert, dass den Zivilisten nichts geschehen werde, wenn die Waffen niedergelegt werden. Allerdings war der Völkermord an der männlichen muslimischen Zivilbevölkerung bereits beschlossen. Am 12. Juli wurden die Frauen und Kinder aus der Region entfernt, während die Männer ab diesem Moment inhaftiert wurden. Männer, die es mit in die Busse der Frauen und Kinder geschafft hatten, wurden später bei einem Kontrollpunkt in Tišća ausgesondert, in einer Schule inhaftiert und erschossen. Am selben Tag wurden auch die in der Enklave stationierten UN-Soldaten entwaffnet und einige ihrer Materialbestände geplündert.

     

    Mit den Inhaftierungen begannen auch die Massaker, die Exekutionsorte lagen allerdings außerhalb der UN-Schutzzone. Bis zu 6000 Männer aus der Kolonne wurden zunächst in einem Warenlager, auf einer Wiese, einem Fußballfeld und anderen, kleineren Orten festgehalten. Im Warenlager Kravica kam es am darauffolgenden Tag zu einem spontanen Massaker an über 1000 Menschen. Den dort in dem Warenlager eingepferchten Männern war es gelungen, einem Soldaten der VRS das Gewehr wegzunehmen und ihn zu erschießen. Daraufhin eröffneten die übrigen VRS-Soldaten das Feuer auf die Zivilisten und setzten auch Granaten ein. Die in einem Massengrab verscharrten Körper und Körperteile wurden später im September oder Oktober 1995 umgebettet. Daneben gab es weitere kleinere Erschießungsaktionen. Die an anderen Orten inhaftierten Zivilisten wurden unter katastrophalen Bedingungen festgehalten, mit völlig überfüllten Bussen stundenlang durch die Enklave transportiert und schwer misshandelt. Vereinzelt kam es auch zu gezielten Tötungen an Gefangenen, vermutlich, um die anderen in Schach zu halten.

     

    Danach kam es zum Transport der Häftlinge in den Zuständigkeitsbereich der Zvornik-Brigade. Die Gefangenen wurden zu vier Schulen gebracht, die als vorläufige Haftorte bis zu den Exekutionen dienten und in der Nähe der ausgewählten Exekutionsorte lagen. Ab diesem Zeitpunkt – dem 14. Juli 1995 – beginnt die konkrete Untersuchung des Gericht BiH, da es Trbić lediglich für die Völkermordhandlungen verantwortlich machte, die im Zuständigkeitsbereich der Zvornik-Brigade begangen worden waren. Die zuvor im Einflussbereich der Bratunac-Brigade begangenen Inhaftierungen und Massaker seien nicht im Zuständigkeitsbereich des Angeklagten erfolgt, womit dem Gericht hierfür eine Zurechnungsgrundlage fehlte. Die formale Begründung für die Zurechnung nur im eigenen Zuständigkeitsbereich liegt für das Gericht BiH darin, dass das Regelbuch der VRS strikte Zuständigkeitsgrenzen beschrieb und Trbić außerhalb der „eigenen“ Brigade keinerlei Befugnisse oder Funktionen hatte. Diese Regel hätte die VRS auch hinsichtlich der Völkermordoperation in Srebrenica eingehalten. Für Personen, die auf derselben Hierarchieebene wie Trbić agierten, also im Rang eines Kapitäns erster Klasse, lagen demnach zwei getrennte joint criminal enterprises vor, eines der Bratunac-Brigade und eines der Zvornik-Brigade. Dagegen lag für die Personen aus den höheren militärischen Rängen, die für beide Brigaden oder jedenfalls für die Kooperation der Brigaden bei den Vorgängen in Srebrenica verantwortlich waren (also insbesondere auf der Ebene der Generäle), nur ein großes joint criminal enterprise I vor, das die Gesamtvorgänge in der Enklave umfasste. Darüber aber hatte das Gericht BiH nicht zu bestimmen. Die höheren militärischen Ränge wurden vor dem ICTY abgeurteilt.

     

    Die auf die Inhaftierung der Opfer nahe der Exekutionsorte folgenden Massenexekutionen folgten alle einem ähnlichen Schema. Zunächst herrschten in den vorläufigen Hafträumen unmenschliche Bedingungen, insbesondere mangelnde Hygiene, zu große Hitze und Fehlen von Wasser, wodurch die Häftlinge bereits geschwächt waren. Wer dennoch Widerstand leistete, wurde erschossen. Den Gefangenen wurden vor dem Transport die Augen verbunden und die Hände auf den Rücken gefesselt. Dann wurden sie in Bussen und anderen Transportfahrzeugen von den Haftorten zu den Exekutionsorten gebracht, wo die muslimischen Männer gruppenweise erschossen wurden. Oft bereits parallel zu den Hinrichtungen wurden mit Baggern Massengräber ausgehoben, um die Leichen zu verscharren. Diese Massengräber wurden dann Monate später wieder geöffnet, um die Leichen in neue, sog. sekundäre Massengräber zu verlegen, um die Nachverfolgung der Völkermordaktionen zu erschweren. Manchmal kam es sogar zu tertiären Umbettungen von Leichen.

     

    Zur Beteiligung Trbićs:

     

    Trbić war bei den Massenexekutionen im Zuständigkeitsbereich der Zvornik-Brigade regelmäßig persönlich anwesend. In Orahovac erschoss er auch selbst Gefangene. Bei der Exekution in Petkovci kam er erst während der Exekutionen dazu, war sodann aber vor Ort zentral in die organisatorische Durchführung der Bewachung und der Transporte involviert. Im Anschluss beriet er bei einem Treffen zusammen mit den Offizieren Nikolić, Beara und Popović, ob die Massenexekutionen nicht doch gestoppt werden sollten. Es fehlte an Material und Männern, um die Exekutionen von tausenden Opfern fortzusetzen. Doch es fiel die Entscheidung weiterzumachen. Auch bei den nachfolgenden Exekutionen organisierte Trbić die Gefangenentransporte. In Kozluk begleitete er zwei Transporte und erschoss vor Ort auch selbst mindestens fünf Gefangene. Nachdem alle Gefangenen aus der Schule in Ročević zu den Exekutionsorten verbracht und hingerichtet worden waren, war es ebenfalls Trbić, dem auf Wunsch von Oberstleutnant Popović die Aufräumarbeiten anvertraut wurden. Es lag auch in Trbićs Verantwortung, die Grabungsmaschinen für die Massengräber sowie ausreichend Treibstoff und Munition für Transporte und Exekutionen zu organisieren. Trbić war auch am letzten Schritt der Völkermordaktion am Tage der Exekution, an der Suche nach Überlebenden, beteiligt. Er war persönlich anwesend, als vier Überlebende aufgefunden und noch nach dem 17. Juli exekutiert wurden

    .

    In der Hierarchie der Zvornik-Brigade war Trbić zur Tatzeit der drittranghöchste Offizier. Er war ebenfalls Mitglied der Geheimdienst- und Sicherheitsorgane der VRS. Die Sicherheitsorgane der VRS hatten die Aufgabe, Kriegsgefangene festzunehmen und gegen sie zu ermitteln. Diese Funktion nutzte die VRS als Vorwand für die Inhaftierungen und Tötungen in Srebrenica. Die Opfer wurden einfach zu Kriegsverbrechern erklärt.

     

    Dass Trbićs sich an dem joint criminal enterprise I im Zuständigkeitsbereich der Zvornik-Brigade beteiligt hatte, stützte das Gericht auf seine zentrale Kommunikations- und Koordinierungsfunktion in der Brigade. In dieser Funktion hatte er über mehrere Tage für die reibungslose Umsetzung der Völkermordbefehle gesorgt. Insbesondere stand er in ständigem Kontakt mit den übrigen Offizieren und konnte dadurch alle Tötungsaktionen organisieren. Seine Beteiligung begann bereits am 12. Juli mit der Auswahl der Haftorte und setze sich fort bis zu den Umbettungsaktionen, die einige Monate nach Ende der ersten Völkermordhandlungen begannen, als die Massengräber geöffnet und die Leichen neu verscharrt wurden. Er war in jeden Schritt des Völkermordplans entscheidend involviert. Einige Tötungen beging er auch selbst. Dass er an der Operation mitgewirkt hat, hatte er auch selbst im Strafverfahren ausgesagt, sich aber darauf berufen, nur Befehle befolgt bzw. keine besondere Absicht verfolgt zu haben.

     

    Um die Völkermordabsicht von Trbić zu belegen, konnte die Kammer nicht auf den kriminellen Plan an sich zurückgreifen, da Trbić nicht zu seinen Hauptgestaltern zählte. Verantwortlich für den Völkermordplan waren die höheren Befehlsränge, von deren Absichten Trbić mutmaßlich erst nach dem Sturm auf die Enklave informiert worden war (am Morgen des 12. Juli 1995). Die Absicht musste daher aus Indizien abgeleitet werden, wobei natürlich die Hingabe und Gründlichkeit des Angeklagten eindeutig waren. Er zeigte keinerlei inneren Widerstand, auch nach dem Verfahren zeigte er keinerlei emotionale Regung.

     

    Rechtliche Fragen stellten sich in diesem Verfahren eher wenige. Die Kammer hielt sich hinsichtlich der Beteiligung Trbićs rechtlich an die Anklagevorwürfe. Es reduzierte das Ausmaß des joint criminal enterprise I lediglich vom gesamten Völkermord in Srebrenica auf die Völkermordvorgänge im Zuständigkeitsbereich der Zvornik-Brigade. Zuvor hatte die Anklagebehörde die Anklageschrift, die ursprünglich vor dem ICTY genutzt werden sollte, dahin abgeändert, ein „großes“ joint criminal enterprise anstatt vieler „kleiner“, nach Tatzielen differenzierter joint criminal enterprises anzuklagen, wie es der ICTY für den Gesamtkomplex Srebrenica für die höheren Befehlsränge getan hatte. Das lag vor allem daran, dass einige Mordvorwürfe, die vor dem ICTY erhoben werden sollten, im Wege eines joint criminal enterprise der Kategorie III hätten zugerechnet werden müssen. Das Gericht BiH wendet diese Zurechnungskategorie von JCE aber nicht an.

     

    Die Anklagebehörde hatte als Beteiligungsform in der Anklageschrift ursprünglich die (etwa aus dem Fall Rašević/Todović bekannte) Kombination von Art. 180 Abs. 1 StGB BiH (joint criminal enterprise) mit Art. 29 StGB BiH (Mittäterschaft) gewählt. Das Gericht verurteilte aber nur wegen Art. 180 Abs. 1 StGB BiH. Das Gericht verstand also, dass joint criminal enterprise für sich allein stehen kann.

     

    Trbić wurde auf Basis des Völkermordtatbestands aus dem StGB BiH zu 30 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Erwägungen in der Strafzumessung bleiben allerdings oberflächlich. Es scheint nur durch, dass die Kammer aufgrund des Ausmaßes der Verbrechen davon ausging, dass es eigentlich keine dem Unrecht angemessene Sanktion geben kann. Die Kammer legte auch dar, dass sie sehr viel Gewicht auf die Folgen des Völkermordes legt, also auf bleibende Traumata, Probleme mit Erbschaften und das andauernde Gefühl von Bedrohung und Verlust, unter dem die Opfer immer noch leiden. Zu den persönlichen Motive, überhaupt zur Persönlichkeit von Trbić erfährt man nichts, da Trbić keine Aussagen dazu machte. Das erstinstanzliche Urteil wurde in der Appellationsinstanz vollständig aufrechterhalten, das zweitinstanzliche Urteil daher in diesem Projekt auch nicht übersetzt.

     

    Im Anschluss an das Urteil des EGMR Maktouf und Damjanovic v. Bosnien und Herzegowina reichte Trbić jedoch erfolgreich eine Verfassungsbeschwerde wegen Verstoßes gegen die lex mitior-Regel ein, sodass die Rechtsgrundlagen der Verurteilung auf den Völkermordtatbestand des StGB SFRJ umgestellt wurden. Anstelle von joint criminal enterprise wurde nun in Mittäterschaft verurteilt, aber der Schuldspruch in der Sache blieb. Das neue Strafmaß auf Basis des Völkermordtatbestands des StGB BiH betrug 20 Jahre, die frühere Höchststrafe bei zeitiger Freiheitsstrafe nach Wegfall der Todesstrafe. Regulär war für Völkermord unter dem StGB SFRJ eigentlich eine Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren vorgesehen, aber das Gericht BiH wandte Artikel 38 Abs. 2 StGB SFRJ an, der es bei schwersten Straftaten, die eigentlich mit Todesstrafe bestraft würden, gestattet, eine Freiheitsstrafe von 20 Jahren zu verhängen.

     

    Links:

     

    Erstinstanzliches Urteil

     

    Zweitinstanzliches Urteil (nur Zusammenfassung)

     

    Neues zweitinstanzliches Urteil im Anschluss an die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde Trbićs

     

    Analysedokument

  • Ramiz Avdović und Iulian Nicolae Vintila - Kaserne "Viktor Bubanj" in Sarajevo

    Ursprünglich wurde Ramiz Avdović, Iulian Nicolae Vintila und Besim Muderizović in der Anklageschrift vorgeworfen, in Gefängnissen in Sarajevo Kriegsverbrechen an serbischen Zivilisten nach dem StGB BiH im Wege eines joint criminal enterprise II begangen zu haben. Die serbischen Zivilisten wurden rechtswidrig inhaftiert und anschließend täglich Misshandlungen ausgesetzt.

     

    Die Verbrechen fanden im Zeitraum von Ende Juni 1992 bis Ende November 1992 statt, während des bewaffneten Konflikt in Bosnien und Herzegowina zwischen der Armee der Republika Srpska (VRS), der Armee von Bosnien und Herzegowina (ARBiH) und dem Kroatischen Verteidigungsrat (HVO). Als Hafträume dienten zunächst das Erdgeschoss und der V. Stock des Militärgefängnisses in Sarajevo und später die Militäruntersuchungshaftanstalt im Bezirksmilitärgericht. Die Räumlichkeiten befanden sich aber allesamt in der ehemaligen Kaserne „Viktor Bubanj“ in Sarajevo. Laut einem Bericht von Human Rights Watch aus dem Jahr 1994 beherbergte das Kasernengelände mehrere Hafteinrichtungen, von denen die Militärhafteinrichtung offiziell dazu diente, Festgenommene zu verhören und zu überprüfen. In dieser Einrichtung dienten die Angeklagten Avdović und Vintila.

     

    Vorbestimmt wurde der Verlauf des Verfahrens durch den Tod des Angeklagten Muderizović. Als stellvertretender Leiter der Untersuchungshaftanstalt in der Kaserne hatte er eine herausgehobene Position in der Gefängnisorganisation inne. Nachdem die Anklagebehörde Muderizović aus der Anklageschrift entfernt hatte, rügte die Verteidigung, dass nunmehr nur noch für das Funktionieren des Lagersystems unbedeutende Angeklagte vorhanden wären, sodass der Vorwurf eines joint criminal enterprise nunmehr nicht mehr zu rechtfertigen sei. Avdović bekleidete die Position des De-facto-Kommandanten der Wachen in den Gefängnissen. Der Angeklagte Vintila war zunächst als Koch(!) in dem Gefängnis tätig und war später eine einfache Wache.

     

    Die Anklagebehörde reagierte darauf in der Weise, dass nunmehr nur noch Kriegsverbrechen nach dem StGB SFRJ, begangen im Wege der Mittäterschaft, teilweise durch Unterlassen, angeklagt wurden.

     

    Diese Anklagestrategie hatte für den Ausgang des Verfahrens einschneidende Konsequenzen. Es ergingen zahlreiche Freisprüche, da im Falle der Mittäterschaft die konkrete Beteiligung und Kenntnis der Angeklagten von den Misshandlungen bewiesen werden mussten, was vielfach – trotz zahlreicher auch im Urteil wiedergegebener Zeugenaussagen – nicht gelang. Und auch die Misshandlungen, die Avdović zugerechnet werden konnten, erreichten dann nicht das Schwereniveau einer „unmenschlichen Behandlung“ im Sinne der Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung nach Art. 142 StGB SFRJ. Neben der Beteiligungsmodalität hätte die Anklagebehörde daher auch die tatsächlichen Vorwürfe erneut prüfen müssen.

     

    So entfiel für Avdović der zentrale Vorwurf, mitverantwortlich für die rechtswidrige Inhaftierung der serbischen Zivilisten zu sein. Die Anklagebehörde hatte diesen Vorwurf ursprünglich damit begründet, Avdović habe die Gefangenen entweder selbst in die Hafträume überführt oder zugelassen, dass die Wachen diese Überführung durchführen, obwohl er wusste, dass die Hafträume ungeeignet waren, das Festhalten von Zivilpersonen dort nicht erlaubt war und es keinen gültigen Haftbefehl gab. Da Avdović dabei unter der Kontrolle des Mitangeklagten Muderizović stand, wollte die Anklagebehörde ihm eine Beteiligung an einem joint criminal enterprise II nachweisen, an dem neben Avdović und Muderizović noch zahlreiche weitere Mitglieder der Militärpolizei der Territorialverteidigung der Republik BiH beteiligt gewesen waren. Diesen Anklagepunkt hatte die Anklagebehörde dann aber selbst aufgegeben, wohl weil sie ohne Muderizović keine Möglichkeit sah, Avdović mit dem joint criminal enterprise II in Verbindung zu bringen.

     

    Mehrere Fälle schwerer Misshandlungen an den Gefangenen mussten ebenfalls fallen gelassen werden, weil die Anklagebehörde keine Möglichkeit sah, die Kenntnis Avdovićs von den Vorfällen nachzuweisen. Im Rahmen eines joint criminal enterprise II würde aufgrund der Stellung des Angeklagten (De-Facto-Kommandant der Wachen) in dem Misshandlungssystem der Vorsatz vermutet werden. Diese Beweiserleichterung entfällt aber bei dem Vorwurf der Mittäterschaft. Aus dem gleichen Grund scheiterten Vorwürfe der verbotenen Zwangsarbeit, bei denen Gefangene teilweise in Schussweite des umliegend stationierten Militärs arbeiten mussten.

     

    Von den Vorwürfen, die nach der Änderung der Anklageschrift noch übrig blieben, wurde Avdović nur wegen einiger körperlicher Misshandlungen verurteilt. In einem Fall hatte er das Opfer selbst verletzt. Im Übrigen war er zwar nicht selbst anwesend, er sei aber trotz der Kenntnis von den täglichen Misshandlungen nicht gegen die Wachen eingeschritten, obwohl er die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Hierfür erfolgte die Verurteilung als Mittäter durch Unterlassen. Um den Unterlassungsvorwurf aufrechtzuerhalten, musste nachgewiesen werden, dass Avdović die Möglichkeit hatte, Misshandlungen durch die Wachen zu verhindern. Die Position eines Wachkommandanten war in den Hafteinrichtungen aber gar nicht vorgesehen. Eine Stellung Avdovićs als „De-Facto-Kommandant“ begründete das Gericht dann schließlich damit, dass er aufgrund seiner Berufserfahrung als Gefängniswärter und seines Alters erheblichen Einfluss auf die übrigen Wärter ausüben konnte.

     

    Freigesprochen wurde Avdović von drei Fällen verbotener Zwangsarbeit. In einem Fall mussten die Gefangenen ohne vorheriges Training und ohne Schutzausrüstung Minen räumen. In einem anderen Fall mussten sie schwere Arbeit an der Frontlinie verrichten. Und schließlich wurden nachts bereits verwesende Leichen ohne Hilfsmittel exhumiert. Die Anklage konnte aber nicht nachweisen, dass Avdović vorab von den Arbeiten gewusst hatte. Das wäre aber notwendig gewesen, um ihm vorzuwerfen, dass er sie trotz Möglichkeit nicht verhindert hätte.

     

    Die Folgen des Wegfalls des Angeklagten Muderizović belegen damit nachdrücklich, dass die nationalrechtliche Zurechnung über die Mittäterschaft nicht ausreichend ist, um die systemische Verbrechensbegehung in organisierten Misshandlungssystemen wie der Kaserne „Viktor Bubanj“ abzubilden. Die Anklagestrategie, ohne Nachbesserung der Beweise die Vorwürfe gegen die niederrangigen Angeklagten aufrecht zu erhalten, konnte daher keinen Erfolg haben. Unklar bleibt jedoch, warum der Vorwurf eines joint criminal enterprise aufgegeben werden musste. Auch unter Anwendung des alten Rechts wäre die Zurechnungsfigur als Völkergewohnheitsrecht anwendbar gewesen. Möglicherweise wurde auf den Vorwurf der Beteiligung an einem joint criminal enterprise verzichtet, weil es sich bei Avdović und Vintila um eher unbedeutende Beteiligte handelte. So wurden Vintila einzelne Misshandlungen vorgeworfen, jedoch stand für alle Prozessparteien fest, dass er keinerlei Entscheidungsbefugnisse im Gefängnis hatte. Die Hauptverantwortlichen waren Muderizović und möglicherweise auch diejenigen einfachen Wächter, die die schweren Misshandlungen persönlich begangen hatten.

     

    Dass die beiden Angeklagten auch vom Gericht als nicht für das Misshandlungssystem relevant angesehen wurden, spiegelt sich auch in den äußerst niedrigen Strafen wider – Avdović erhielt eine Freiheitsstrafe von drei Jahren, Vintila von zwei. Es lägen bei ihnen gem. Art. 42 StGB SFRJ die Voraussetzungen einer besonderen Strafmilderung unter die eigentliche Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe für Kriegsverbrechen vor. Die Milderungserwägungen tragen jedoch nicht. Weder der lange Zeitablauf nach der Tat, der Umstand, dass die Angeklagten nicht erneut straffällig wurden, noch die Tatsache, dass sie Familien gegründet haben, darf eigentlich strafmildernd berücksichtigt werden. Insgesamt kommt in dieser Strafe dann auch nicht mehr zum Ausdruck, dass es sich um ein organisiertes Misshandlungssystem handelte.

     

    Das Urteil wurde in zweiter Instanz vollumfänglich bestätigt. Insbesondere hinsichtlich der Strafzumessung werden die (sachlich gerechtfertigten) Rügen der Anklagebehörde pauschal damit abgelehnt, das Tatgericht habe einen weiten Ermessensspielraum und Fehler seien nicht zu erkennen.

     

    Links:

     

    Erstinstanzliches Urteil

     

    Zweitinstanzliches Urteil

     

    Analysedokument

  • Oliver Krsmanović - Višegrad & Sjeverin

    Für den Fall Krsmanović wurden zwei unterschiedliche Verfahren an zwei verschiedenen Gerichten, am Gericht BiH und am Bezirksgericht Belgrad, auszugsweise übersetzt und analysiert. Beide Verfahren betreffen teilweise denselben Verbrechenssachverhalt, aber das Belgrader Verfahren konnte weit früher stattfinden als das Verfahren vor dem Gericht BiH und umfasste mehr Angeklagte aus der paramilitärischen Gruppe, der die Verbrechen vorgeworfen wurden. Außerdem gibt es ein bedeutsames Parallelverfahren des ICTY gegen den Anführer der paramilitärischen Gruppe und seinen Bruder (Milan und Sredoje Lukić).

     

    Der Angeklagte, der im Zentrum des hier vorrangig beobachteten Verfahrens vor dem Gericht BiH stand, Oliver Krsmanović, war Soldat der Armee der Republika Srpska (VRS). Vorgeworfen wurde ihm jedoch in beiden Fällen, als ständiges Mitglied der paramilitärischen Formation um Milan Lukić– der zuvor vor dem ICTY zu lebenslanger Haft verurteilt worden war –Verbrechen gegen die Menschlichkeit (so die Anklage vor dem Gericht BiH) bzw. Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung (so die Anklage vor dem Bezirksgericht Belgrad) begangen zu haben. Diese Gruppe wird in dem einen Verfahren als „Rächer“ (Bezirksgericht Belgrad), in dem anderen als „Weiße Adler“ (Gericht BiH) bezeichnet. Es handelt sich jedoch augenscheinlich um ein und dieselbe Formation mit wechselnder Besetzung, die nach den Erkenntnissen der Gerichte von der Armee der Republika Srpska unabhängig in der Region Višegrad agierte (wobei die Unabhängigkeit von der VRS in den Verfahren zentraler Streitpunkt war, denn die Opferangehörigen gingen v. a. im Belgrader Verfahren davon aus, dass die Gruppe mit Hilfe der VRS und jedenfalls mit deren Einverständnis ihre Verbrechen begangen hatte).

     

    Verfahren vor dem Gericht BiH:

    Vor dem Gericht BiH wurde Krsmanović einzeln angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, als Teil der Formation um Milan Lukić an Tötungen, am zwangsweisen Verschwindenlassen von Opfern und an Sexualstraftaten gegen Opfer aus der nichtserbischen Zivilbevölkerung in Višegrad beteiligt gewesen zu sein, konkret vor allem an Verbrechen gegen muslimische Opfer. Der Urteilssachverhalt benennt eine Vielzahl von einzelnen verbrecherischen „Aktionen“ der Formation. An mehreren Orten wurden muslimische Männer entführt, die in der Folge teilweise verschwanden oder teilweise nachweislich von der Gruppe exekutiert wurden. Der wohl schwerste Vorwurf lautete darauf, Krsmanović sei daran beteiligt gewesen, eine Gruppe von 60-70 Muslimen (mehrheitlich Frauen und Kinder) in ein Haus zu sperren und das Haus daraufhin niederzubrennen. Nur zwei Opfer entkamen. Wegen dieses Vorfalls wurden der Anführer der Gruppe Milan Lukić und sein Bruder Srejdoje Lukić vor dem ICTY verurteilt (dort ging man von 53 Opfern im sog. Pionirska-Street-Incident aus), Krsmanović hingegen vor dem Gericht BiH freigesprochen. Seine Teilnahme an diesem Vorfall konnte nicht belegt werden (alle Täter waren maskiert gewesen, sodass die beiden Überlebenden sie nicht klar identifizieren konnten). Ebenso wurde Krsmanović von dem Vorwurf freigesprochen, Vergewaltigungen begangen zu haben (auch hier waren die Täter in Camouflage nicht genau zu identifizieren).

     

    Schuldig gesprochen wurde er am Ende aber für sieben Einzeltaten. In drei Fällen hat er als Mittäter (teilweise mit der Gruppe um Lukić und teilweise mit Mitgliedern der VRS) muslimische Bürger verschwinden lassen. Zweimal misshandelte er als Alleintäter Zivilisten, wobei seine Folter in einem Fall durch Soldaten in JNA-Uniformen unterbunden wurde. Ebenfalls schuldig befunden wurde er für seine Beteiligung als Mittäter bei der Entführung von 16 muslimischen Zivilisten aus einem Bus und deren späterer Folterung im Hotel Vilina Vlas in Višegrad und der anschließenden Exekution der Opfer am Ufer der Drina (ihre Leichen wurden offenbar nicht geborgen). Schließlich hatte er gemeinsam mit der Gruppe um Lukić sieben muslimische Arbeiter aus der Varda-Fabrik entführt und getötet und ebenfalls in die Drina geworfen (wo die Leichen von den Angehörigen gefunden wurden).

     

    Interessant war die Doppelfunktion des Angeklagten als Soldat im Militär und als Mitglied der paramilitärischen Formation. So wurde etwa aus seiner Stellung als Mitglied der offiziellen Streitkräfte abgeleitet, dass er um den ausgedehnten und systematischen Angriff auf die nichtserbische Zivilbevölkerung wusste. Gleichzeitig soll er nur einen Teil der Verbrechen im Rahmen seiner Tätigkeit als Soldat begangen haben (die VRS-Einheit Višegrad wird auch mit Verbrechen in Verbindung gebracht, aber die Mehrzahl und die schwersten Verbrechen, die Krsmanovič vorgeworfen wurden, beging er als Teil der Gruppe um Milan Lukić, der selbst offiziell nicht zum Militär gehörte und auch nicht wie sein Bruder Sredoje Lukić zur Polizei – ob es inoffiziell Militärunterstützung für die Gruppe gab oder sogar Rahmenanordnungen durch das Militär, ist eine der großen Fragen, die keiner der Prozesse klären konnte).

     

    Das erstinstanzliche Urteil gegen Krsmanović wurde in der Appellation vollständig aufrechterhalten, Krsmanović wurde zu 18 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, auf der Basis des Tatbestands der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Artikel 172 StGB BiH.

     

    Dabei überrascht die Begründung für die Anwendbarkeit des StGB BiH von 2003: Das Gericht gründet sie auf Art. 4a StGB BiH, nach dem das Legalitätsprinzip es nicht verbietet, „dass eine Person wegen einer Handlung oder Unterlassung, die zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat eine Straftat gemäß den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts darstellt, strafrechtlich verfolgt oder bestraft wird“. Es fehlt jedoch ein Hinweis darauf, dass diese Regeln des Völkerrechts schon zur Tatzeit innerstaatlich in der Rechtsordnung des früheren Jugoslawiens Anwendung fanden (bzw. in der Rechtsordnung des damaligen neugegründeten Staates Bosniens-Herzegowinas, in dem noch das StGB SFRJ galt) – zur Beantwortung dieser Frage hätte die frühere Verfassung Jugoslawiens herangezogen werden müssen und erläutert werden müssen, dass schon diese Verfassung die Rechtsordnung des früheren Jugoslawiens für die Grundsätze des Völkerstrafrechts und damit auch die völkergewohnheitsrechtlich geltenden, damals noch ungeschriebenen Völkerstraftatbestände (Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid, Kriegsverbrechen) geöffnet hatte und dass die neu gegründete Republik Bosnien und Herzegowina diesen Bestand an völkergewohnheitsrechtlichem Strafrecht auch ungeschrieben übernommen hatte. Wenn sich die Rechtsordnung erst 2003 mit dem StGB BiH nach Artikel 4a StGB BiH für völkergewohnheitsrechtliche Straftatbestände geöffnet hätte, wäre das zu spät.

     

    Ferner ist die Beweiswürdigung augenfällig: Es konnten für einige der Verbrechen keine Tatsachenfeststellungen vom ICTY übernommen werden und weil die Opfer der Verbrechen zumeist tot waren, gab es fast keine Augenzeugen. Viele Zeugen konnten nur im Wege des Hörensagens Einzelheiten zu den Verbrechen liefern. Schließlich war die Beweiswürdigung deshalb problematisch, weil einige Zeugen bereits viele Jahre zuvor schon einmal befragt worden waren, damals aber zu den nun Beschuldigten keine belastenden Angaben gemacht hatten. Dies resultierte wohl daraus, dass sie damals nur zu konkreten Beschuldigten gefragt worden waren, die damals vor Gericht standen (die Haupttäter Milan und Sredoje Lukić etwa, aber nicht die jetzt Angeklagten). Auch ist es möglich, dass sie aufgrund von Misstrauen gegenüber den damaligen Ermittlungsbehörden das Nennen von konkreten Beschuldigtennamen vermieden hatten. Die Personen lebten ja alle noch unbehelligt in der Nachbarschaft.

     

    Knapp fallen schließlich die Ausführungen des Gerichts zur Strafzumessung hinsichtlich des Angeklagten Krsmanović aus. Auch zieht die erste Instanz teilweise unzulässige Strafzumessungskriterien heran, so wie auch z. B. im Verfahren Avdović/Vintila und anderen Prozessen vor dem Gericht BiH. Diese Kriterien wurden später von der zweiten Instanz aber nicht beanstandet, obwohl man aus den knappen Strafzumessungsüberlegungen der ersten Instanz (eigentlich nur eine Aufzählung von Kriterien) nicht einmal klar entnehmen konnte, was die erstinstanzliche Kammer eigentlich als strafschärfend oder -mildernd ansah. So zählte sie als Aspekt der Strafzumessung unter anderem das Kriterium „Mittäterschaft“ auf, wobei unklar blieb, ob sie es als strafschärfendes Kriterium verwenden wollte. Wenn ja, hätte das einen Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot bedeutet.

     

    Das sog. Sjeverin-Verfahren vor dem Bezirksgericht Belgrad:

    In dem Verfahren vor dem Bezirksgericht Belgrad aus dem Jahr 2005 waren neben Krsmanović ferner angeklagt: Milan Lukić, Dragutin Dragičević und Ɖorđe Šević, alles Beteiligte an der paramilitärischen Gruppe um Milan Lukić. Laut Anklage hatten die Angeklagten einen Bus an der Grenze zwischen Serbien und der Republika Srpska im Ort Mioče gestoppt und Personen aus dem Bus herausgezogen. In diesem Bus befanden sich u. a. auch muslimische Arbeiter auf dem Weg zur Arbeit. Die festgehaltenen Zivilisten aus dem Bus, alle aus dem Dorf Sjeverin jenseits der naheliegenden Grenze zur damaligen Bundesrepublik Jugoslawien (bestehend nur noch aus Serbien und Montenegro), insgesamt also Muslime mit Wohnsitz jenseits der Grenze, die zur Arbeit pendelten, wurden dann von der Gruppe um Milan Lukić in einem Lastwagen zu dem Hotel „Vilina Vlas“ gebracht. Dort wurden die Gefangenen schwer körperlich misshandelt und sodann am Ufer der Drina erschossen. Der Vorwurf vor dem Bezirksgericht Belgrad lautete auf Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung gem. Art. 142 Abs. 1 StGB SRJ, begangen im Wege der Mittäterschaft gem. Art. 22 StGB SRJ. Das Strafgesetzbuch der Serbischen Republik Jugoslawien trat 1993 in Kraft und war im Wesentlichen wortgleich mit dem vorher geltenden StGB SFRJ, hatte also die Völkerstraftatbestände (Kriegsverbrechen und Genozid) wortgleich übernommen. Allerdings enthielt das neue Gesetz keine Regelung mehr zur Todesstrafe, weshalb es dann aufgrund der lex mitior Regel auf die Tat aus dem Jahr 1992 zur Anwendung kam.

     

    Zu klären war in prozessualer Hinsicht zunächst, ob das Verfahren überhaupt neben dem bereits beim ICTY anhängigen Verfahren gegen Milan und Sredoje Lukić stattfinden durfte. Lukić könnte dann doppelt angeklagt sein, was möglicherweise gegen die Regeln zur Vorrangzuständigkeit des ICTY gem. Art. 9 Abs. 2 ICTY-Statut verstößt. Zur Geltendmachung der Vorrangzuständigkeit des ICTY hätte der ICTY diese aber zumindest mit einer formalen Anfrage geltend machen müsste. Eine solche war aber nicht erfolgt. Außerdem war das Geschehen um die Entführung der muslimischen Opfer aus dem Bus in Mioče vor dem ICTY gar nicht angeklagt worden. Der Sachverhalt war also nicht doppelt rechtshängig, wodurch eine Aburteilung vor dem Bezirksgericht Belgrad auf jeden Fall zulässig war. Allerdings mussten Krsmanović und Lukić in Belgrad zunächst in Abwesenheit verurteilt werden. Dies macht das Urteil gegen Krsmanović als bosnischen Staatsbürger nicht vollstreckbar. Die Serben konnten seine Auslieferung nach Serbien mangels Rechtshilfeübereinkommen zwischen den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien nicht erzwingen. Das Verfahren vor dem Gericht BiH erfolgte übrigens erst einige Jahre später. Dass Krsmanović dort ebenfalls zu dem Tatkomplex Hotel Vilina Vlas verurteilt wurde, begründete dann aber auch für das Gericht BiH keinen Verstoß gegen das ne bis in idem, das in beiden Staaten (Republik Serbien und Republik Bosnien und Herzegowina) nur für den jeweiligen nationalen Rechtsraum gilt. Auch aus Artikel 4 des 2. Zusatzprotokolls zur EMRK ergibt sich kein transnationales Gebot ne bis in idem, und Artikel 54 SDÜ oder Artikel 50 GRCh gelten für die EU-Nichtmitglieder Serbien und Bosnien und Herzegowina nicht. Das heißt zum Zeitpunkt der ersten Aburteilung war gegen Krsmanović (und auch gegen Milan Lukić) noch keine Anklage wegen des Geschehens um die Entführung aus dem Bus in Mioče erfolgt, also auch kein Doppelverfolgungsverbot relevant. Und zum Zeitpunkt der Folgeverurteilung von Krsmanović vor dem Gericht BiH gab es trotz der bereits im Jahre 2005 erfolgten Aburteilung des Sachverhalts in Belgrad kein klares Verbot ne bis in idem zu beachten. Das Urteil des Belgrader Bezirksgerichts gegen Krsmanović wurde nach der Abwesenheitsverurteilung offenbar auch nie vollstreckt. Die serbischen Behörden konnten des Angeklagten nicht habhaft werden. Milan Lukić lebte nach seiner Abwesenheitsverurteilung offenbar auch noch länger unbehelligt in Bosnien und Herzegowina und musste dann aber nach dem Sturz Miloševićs fliehen und wurde später in Buenos Aires aufgefunden, verhaftet und zur Aburteilung an den ICTY überstellt.

     

    Das Belgrader Verfahren endete mit einer Verurteilung der Angeklagten, der Anwesenden wie der Abwesenden. Verurteilt wurde wegen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung nach Artikel 142 StGB SRJ. Die meisten Angeklagten erhielten jeweils 20 Jahre Freiheitsstrafe, die Höchststrafe nach dem StGB SRJ. Die Verurteilungen von Lukić und Krsmanović waren aber nicht vollstreckbar, da sie für das Gericht nicht greifbar waren und lediglich in Abwesenheit verurteilt wurden. Nur ein Angeklagter, Đorđe Šević, der im Verfahren gleichsam als Hauptbelastungszeuge für seine Mitangeklagten und früheren Kameraden aufgetreten war, die eigene Beteiligung an den Tötungen aber geleugnet hatte, erhielt nur 15 Jahre Freiheitsstrafe, hauptsächlich, weil er zur Tatzeit noch unter 21 Jahre alt gewesen war und weitgehend mit den Strafverfolgern kooperiert hatte. Für ihn lag sogar ein psychologisches Gutachten vor, eine Seltenheit in diesen Kriegsverbrechensverfahren, in denen man oft so gut wie nichts über die Angeklagten und ihre Motive erfährt. Das Gutachten wies ihn als unterdurchschnittlich intelligent und als Mitläufer aus, der schon zuvor durch antisoziales Verhalten oder jedenfalls durch jugendlich widerborstiges Verhalten aufgefallen war und der offenbar aus Langeweile zu der Gruppe in Višegrad gewechselt war (nachdem er sonst immer nur für die Armee nächtliche Wachdienste ohne Feindkontakt geleistet hatte, was ihn gelangweilt hatte). Die psychischen Entwicklungsmängel hätten allein für eine Strafmilderung dennoch nicht ausgereicht hätte, aber seine Jugend zur Tatzeit war ein wichtiges Strafmilderungskriterium.

     

    Zentrale Aspekte der Urteile:

    Hinsichtlich rechtlicher Ausführungen zu Täterschaft und Teilnahme sind die Verfahren vor dem Gericht BiH und in Belgrad beide nicht sehr ergiebig, zumal auch vor dem Gericht BiH keine der spezifisch völkerstrafrechtlichen Zurechnungsmodalitäten zur Anwendung kam, also insbesondere kein Joint Criminal Enterprise. Auch das Gericht BiH verurteilte nur in Mittäterschaft, konkret nach Artikel 29 StGB BiH. Das Gericht Belgrad wählte als Basis der Zurechnung in Mittäterschaft Artikel 22 StGB SRJ mit den früheren Vorgaben für Mittäterschaft nach altem jugoslawischen Recht. Die beiden Verfahren bieten damit die Möglichkeit, die Anforderungen an die Mittäterschaft unter beiden Regelungen anhand der Subsumtion unter denselben Sachverhalt direkt zu vergleichen. Nur fiel die Subsumtion des Gerichts BiH unter Artikel 29 StGB BiH dann so knapp aus, dass sie wenig Erkenntniswert hat.

     

    Was die Urteile aber sehr interessant macht, ist ihre Darstellung, welche Macht die paramilitärische Formation um Milan Lukić in Višegrad hatte und wie sie zur VRS stand.

     

    So wird vor dem Bezirksgericht Belgrad die Verflechtung zwischen den offiziellen Streitkräften der VRS und den paramilitärischen „Rächern“ untersucht. Ein Zeuge gab an, Ratko Mladić, seines Zeichens Oberbefehlshaber der VRS, hätte ihm gegenüber zugegeben, er würde die „Rächer“ teilweise bei der Durchführung einzelner Operationen anweisen oder sich zumindest auf sie verlassen, sie unterstünden jedoch nicht der Befehlsgewalt der VRS. Die fehlende Befehlsgewalt des Oberbefehlshabers der VRS gegenüber der Gruppe wurde im Sachverhalt auch dadurch deutlich, dass es nicht einmal Mladić möglich gewesen war, einem muslimischen Delegierten, der eine Gruppe Delegierter direkt nach der Tat bei einer Aufklärungsmission in das Grenzgebiet von Sjeverin begleiten sollte, sicheres Geleit zu verschaffen. In den Grenzgebieten um Sjeverin, dem Ort, von dem aus der Bus mit den Opfern nach Bosnien und Herzegowina auf seiner üblichen Fahrtroute losgefahren war, hatte die VRS demnach keine effektive Kontrolle über das Geschehen, nicht einmal auf der bosnischen Seite der Grenze. Die paramilitärische Gruppe konnte in dem Gebiet auf beiden Seiten der Grenze ungehindert ihr Unwesen treiben. Das bewies auch ein Vorfall kurze Zeit nach der Tat, als eine Gruppe Politiker das Dorf Sjeverin besuchte, um mit den verängstigten Menschen dort zu reden. Plötzlich fuhr der Bus der Gruppe um Milan Lukić mit Beflaggung durch den Ort (der wie gesagt auf dem Gebiet der Bundesrepublik Serbien lag). Das bloße Erscheinen der Gruppe trieb die demonstrierende Menschenmenge sofort in die Flucht.

     

    Dass die Rächer offiziell nicht zur VRS gehörten, wurde für das Bezirksgericht Belgrad dadurch belegt, dass die „Rächer“ über eigene Flaggen und Uniformen verfügten. Außerdem machten Zeugenaussagen klar, dass auch die VRS-Truppen sich nicht in der Lage sahen, den Überfällen durch die Gruppe Einhalt zu gebieten. Nicht geklärt wurde aber, ob man das überhaupt versucht hatte oder ob die Gruppe nicht schlicht geduldet wurde, worauf die Zeugenaussage über die Angaben von Ratko Mladić zur Gruppe hinweist.

     

    Das Treiben der Gruppe wurde aber unmittelbar nach der Entführung der Opfer aus dem Bus auf Druck der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro als Restjugoslawien) beendet, nachdem der jugoslawische Präsident Milošević über die Vorkommnisse in Kenntnis gesetzt worden war und eine zusätzliche Militäreinheit nach Sjeverin beordert hatte. Unmittelbar darauf wurde Milan Lukić auf serbischem Gebiet festgenommen (vordergründig wegen unerlaubten Waffentragens). Über die genaue Beziehung zwischen den „Rächern“ und der VRS gibt es insgesamt widersprüchliche Aussagen. In einem anderen Verfahren vor dem ICTY (Stanišić/Župljanin) wurde festgestellt, dass Lukić offenbar mit der serbischen Polizei in Višegrad kooperierte und vor Ort für diese die „Drecksarbeit“ erledigte. Er soll einige Verbrechen in Polizeiuniform begangen haben. Auf Wikipedia gibt es unbelegte Vorwürfe, er habe später für die serbische Seite Verbrechen begangen und sei insoweit auch jahrelang von Milošević vor Verfolgung geschützt worden. Auffällig ist auch, dass die Waffen der Gruppe offenbar aus den Waffenkammern der VRS stammten. Aber wie die Gruppe an die Waffen kam, war am Ende einfach nicht aufzuklären.

     

    Das Bezirksgericht Belgrad kam am Ende zu dem Ergebnis, dass trotz aller Hinweise auf eine Kooperation zwischen VRS und der Gruppe diese letztlich eigeninitiativ handelte und nicht mit der VRS gemeinsam. Der Befund der Eigeninitiative der paramilitärischen Formation hatte für das Bezirksgericht Belgrad rechtlich auch einen Vorteil: Soweit die Mitglieder der Gruppe nicht auf Befehl der Armeekommandantur handelten, war es leichter möglich, Mittäterschaft nachzuweisen (und nicht nur Gehilfenschaft), denn dann konnte man festhalten, dass alle Gruppenmitglieder aufgrund eines Eigeninteresses und damit aufgrund eines gemeinsam (freiwillig) gefassten Tatplans die Verbrechen begangen hatten. Dieser Nachweis der freiwilligen Teilnahme war wichtig, denn ein früheres Urteil des Bezirksgerichts Belgrad in der Sache war bereits an diesem Punkt von der Rechtsmittelinstanz aufgehoben worden. Der Nachweis einer mittäterschaftlichen Beteiligung erforderte, dass alle Gruppenmitglieder freiwillig dem Plan zugestimmt und auf Basis des Tatplans freiwillig an der Verbrechensausführung mitgewirkt hatten. Dieser Nachweis der freiwilligen Teilnahme war dann, wenn man von keiner militärischen Anordnung an die Soldaten unter den Gruppenmitgliedern ausgehen musste, leichter zu führen.

     

    Zu den unterschiedlichen Anforderungen für Mittäterschaft nach Artikel 22 StGB SRJ und Artikel 29 StGB BiH:

    Zum Vergleich der Anwendung der unterschiedlichen Mittäterschaftsregelungen (Art. 29 StGB BiH und Art. 22 StGB SRJ) auf denselben Sachverhalt (hinsichtlich der Beteiligung Krsmanovićs) ist Folgendes festzuhalten: Das Gericht BiH bejahte neben dem gemeinsamen Tatplan auch den nach Artikel 29 StGB BiH erforderlichen erheblichen Tatbeitrag Krsmanovićs in fast allen Anklagepunkten. Das Argument dafür fällt aber denkbar knapp aus: Krsmanović war bei der Tatbegehung in allen Anklagepunkten jeweils persönlich anwesend und teilweise sogar direkt an der Ausführung der Haupttat beteiligt. Lediglich beim Anklagepunkt zur Entführung der 7 Arbeiter aus der Varda-Fabrik war die Beweislage nicht so eindeutig. Die Kammer sah es als erwiesen an, dass Krsmanović die Opfer zur Drina gebracht hatte, wo sie getötet worden waren. Die bloße Zuführung der Opfer zur Ermordung sei aber keine unmittelbare Tötungshandlung und auch kein erheblicher Beitrag im Vorbereitungsstadium der Tötung, sodass Krsmanović in diesem Fall nur wegen Beihilfe zum Verschwindenlassen/zur Tötung der Opfer verurteilt wurde.

     

    Das Bezirksgericht Belgrad hatte es bei der Subsumtion unter Art. 22 StGB SRJ (nur bezogen auf den Vorfall der Entführung aus dem Bus in Mioče) noch einfacher. Die Unterscheidung zwischen einem „erheblichen“ und einem „einfachen“ Tatbeitrag ist für Artikel 22 StGB SRJ unerheblich. Daher war für das Belgrader Gericht zum Nachweis der Mittäterschaft ausreichend, dass der Täter an der Ausführungshandlung oder auf irgendeine andere Weise an der Tat mitgewirkt hatte. Der Beitrag muss zwar zur Tatbestandserfüllung beitragen, aber eben nicht erheblich oder wesentlich dafür sein. Viel wichtiger war es, das Vorliegen eines gemeinsamen Tatplans zu betonen, den alle in der Gruppe freiwillig gefasst und umgesetzt hatten. Im Sjeverin-Verfahren war es deswegen auch so bedeutsam, dass die Paramilitärs freiwillig und eben nicht auf Befehl des VRS-Kommandos gehandelt hatten. Diese Freiwilligkeit indizierte, dass die Beteiligten gemeinsam den Tatplan gefasst hatten, die muslimischen Arbeiter aus dem Bus zu entführen und später zu ermorden.

     

    Hätte man vor dem Gericht BiH dieses Mittäterschaftsverständnis zugrundegelegt, dann hätte man Krsmanović wohl auch für seine Beteiligung bei der Entführung aus der Varda-Fabrik als Mittäter und nicht nur als Gehilfe verurteilen können. Allerdings erweist sich das StGB BiH insoweit nun als die lex mitior, die allein wegen des durch sie verringerten Schuldvorwurfs (Beihilfe statt Mittäterschaft) auf die Tat zur Anwendung kommen muss.

     

    Links:

     

    Fall Višegrad vor dem Gericht BiH:

     

    Erstinstanzliches Urteil

     

    Zweitinstanzliches Urteil

     

    Analysedokument

     

    Fall Sjeverin vor dem Bezirksgericht Belgrad:

     

    Erste Anklageschrift

     

    Aufhebungsentscheidung des Obersten Gerichtshofs Serbien

     

    Neues erstinstanzliches Tatsachenurteil

     

    Zweitinstanzliches Urteil

     

    Analysedokument

  • Mustafa Đelilović et al. - Hadžići

    Das Urteil gegen Mustafa Đelilović, Fadil Čović, Mirsad Šabić, Nezir Kazić, Bećir Hujić, Halid Čović, Šerif Mešanović und Nermin Kalember liegt in diesem Projekt nur als erstinstanzliches (und nicht rechtskräftig gewordenes) Urteil vor. Das Urteil wurde in der Appellationsinstanz zwar aufgehoben, aber ein neues Tatsachenurteil fehlte (zum jetzigen Stand Winter 2020) noch. Nur das erstinstanzliche Urteil fiel noch in den Zeitrahmen des Projekts. Es ist aber abzusehen, dass das neue Tatsachenurteil zu anderen Subsumtionsergebnissen kommen wird, denn die nachfolgend aufgezeigten Rechtsfehler im erstinstanzlichen Urteil sind insgesamt erheblich.

     

    Der Fall:

    Den Angeklagten wurde vorgeworfen, Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung im Wege der Mittäterschaft an serbischen und kroatischen Zivilisten begangen zu haben. Die Zivilisten wurden über Jahre (Mai 1992 bis 1995; die längste Einzelhaft dauerte 1334 Tage) in behelfsmäßigen Hafträumen in der Gemeinde Hadžići festgehalten, misshandelt und zu teilweise lebensgefährlicher Arbeit an der Frontlinie gezwungen.

     

    Die acht Angeklagten hatten allesamt unterschiedliche Positionen auf verschiedenen Hierarchiestufen in mehreren Behörden und Einrichtungen inne. Der ranghöchste Angeklagte war Đelilović, seines Zeichens Präsident des Krisenstabs der Gemeinde Hadžići, das oberste Gemeindeorgan, das die nachfolgend aufgeführten Verbrechensentscheidungen traf und diese teilweise gegen den Willen übergeordneter Stellen umsetzte bzw. selbst dann noch weiterführte, nachdem von übergeordneten Stellen angeordnet worden war, die illegalen Gefangenen zu entlassen.

     

    Fadil Čović war ebenfalls Mitglied des Krisenstabes und gleichzeitig Kommandant der örtlichen Polizeistation.

     

    Die Position des Angeklagten Sabić war zwischen Anklagebehörde und Verteidigung umstritten. Ursprünglich war er einfacher aktiver Polizist bei der Station der öffentlichen Sicherheit Hadžići bzw. stellvertretender Kommandant der Polizeistation Pazarić. Der Angeklagte selbst gab an, ab Oktober 1992 de facto die Pflichten eines Kommandanten der PS Pazarić ausgeübt zu haben. Nach Ansicht des Gerichts war das aber bereits seit dem 1. Juni 1992 der Fall. Dies wird gestützt durch mehrere Schriftbeweise, aus denen hervorgeht, dass Sabić bereits in dieser Zeit die Kommandopflichten von dem aufgrund Krankheit ausgefallenen Kommandanten Nail Hujić übernommen hatte. Ferner haben serbische Zivilisten, die in der Grundschule „9. Mai“ inhaftiert gewesen waren, übereinstimmend bezeugt, dass immer nur Šabić als Kommandant der Wachen und als Kommandant der Sicherheitskräfte erschienen war. Da die Inhaftierungen bereits im Mai 1992 begonnen hatten, war für das Gericht damit klar, dass Sabić bereits ab spätestens dem 1. Juni 1992 de facto die Position eines Kommandanten der Polizeistation Pazarić bekleidete.

     

    Der Angeklagte Kazić war von Januar 1993 bis November 1994 Kommandant der 9. Gebirgsbrigade und in dieser Funktion für die Bewachung der hier relevanten Gefängnisse Silos und Krupa (s.u.) zuständig.

     

    Das Gefängnis Silos wurde zunächst vom Angeklagten Hujić und ab August 1994 von dem Angeklagten Halid Čović geleitet. Der weitere Angeklagte Kalember war dort Wachmann.

     

    Der Angeklagte Mešanović schließlich leitete das Gefängnis Krupa von Juni 1992 bis Mitte 1994.

     

    Den Verbrechen gingen bewaffnete Kämpfe zwischen der muslimischen (Armee der Republik BiH) und serbischen (Armee der Republika Srpska) sowie zwischen der muslimischen und kroatischen (Kroatischer Verteidigungsrat) Seite voran. Nach der serbischen Besetzung der Gemeinde Hadžići im Mai 1992 zogen die legal gewählten, jetzt aber nur noch muslimisch besetzten Gemeindeorgane in einen kleinen Vorort von Hadžići (Pazarić) um und bildeten den sog. Krisenstab (der später in Kriegspräsidentschaft umbenannt wurde). Diesem stand der Angeklagte Đelilović vor. Der Krisenstab (später Kriegspräsidentschaft) erließ mehrere Entscheidungen „zum Schutz und zur Sicherheit der Bürger“. Die wichtigsten Entscheidungen betrafen dabei serbische Mitbürger. Es sollten alle Personen „isoliert“ werden, die „mit dem Feind zusammenarbeiteten“. Dies führte zur willkürlichen Inhaftierung der Männer aus der serbischen Zivilbevölkerung in zahlreichen Dörfern der Gemeinde Hadžići. Sie wurden in die Haftreinrichtungen „Silos“ (ein Getreidesilo), die Grundschule „9. Mai“ und die Lagerräume der Kaserne „Krupa“ gebracht und dort über Wochen und Monate festgehalten. Die Angeklagten aus dem Krisenstab standen dabei unter dem enormen Druck der lokalen muslimischen Zivilbevölkerung, die die Inhaftierung der Serben forderte, weil die Serben auf ihrem Machtgebiet in der Gemeinde Hadžići wiederum viele muslimische Männer inhaftiert hatten, von denen es keine Nachricht gab. Nach den Aussagen mehrere Zeugen sollten die Gefangenen als eine Art Verhandlungsmasse dienen, um sie gegen diese muslimischen Inhaftierten auszutauschen bzw. gegen militärische Zusagen. Bereits im Sommer 1992 waren über 500 Personen (zunächst Serben, später auch Kroaten) in den oben genannten Einrichtungen inhaftiert. Das gesamte Tatgeschehen geschah im Alleingang der Gemeinde. Übergeordnete zivile oder militärische Stellen wurden nicht befragt und konnten auch wegen der Kriegssituation nur schlecht kontaktiert werden.

     

    Die Haftbedingungen waren in allen drei Hafteinrichtungen sehr schlecht, besonders schlecht jedoch anscheinend in der Grundschule „9. Mai“, wo extremer Hunger herrschte. Diese Hafteinrichtung wurde nach einem Raketenbeschuss auch bereits im Oktober 1992 geschlossen. An allen drei Haftorten waren hunderte Gefangene in überfüllten Betonzellen ohne Tageslicht eingesperrt. Es gab keine Möglichkeit, sich zu waschen oder auf die Toilette zu gehen. Auch Nahrung und Wasser waren kaum vorhanden. Es kam unter den Gefangenen zu Gewichtsverlusten von bis zu 50 kg. Die zunächst bereitgestellten Hilfsgüter durch Familien der Gefangenen oder das IKRK wurden den Gefangenen bereits nach kurzer Zeit vorenthalten und für das Militär verwendet oder von den Wärtern gestohlen. Die Gefangenen verwahrlosten. Einige starben infolge der schlechten Haftbedingungen. Zusätzlich wurden sie durch die Wachen und durch von diesen in die Gefängnisanstalten eingelassene bosnisch-serbische Soldaten ständig körperlich misshandelt.

     

    Der Angeklagte Kalember wurde allein wegen dieser Misshandlungen angeklagt, weil er als Wache von allen Gefangenen am meisten gefürchtet wurde.

     

    Der Angeklagte Kazić war von Januar 1993 bis November 1994 für die Bewachung von „Silos“ zuständig und erteilte in dieser Zeit mehrfach den Befehl, die Gefangenen zu völkerrechtswidriger Zwangsarbeit an die Frontlinie zu schicken. Die Koordination dieser Arbeitseinsätze erfolgte zusammen mit den damaligen Lagerleitern und Mitangeklagten Hujić, Čović und Mešanović. Während der Arbeiten wurden die Gefangenen durch die Wachsoldaten schwer misshandelt. Sie mussten zumeist Schützengräben an der Front ausheben, 20 Stunden am Tag und ohne entsprechende Ausrüstung. Der Präsident der Kriegspräsidentschaft Đelilović wusste von diesen Vorgängen und billigte sie.

     

    Ab April 1994, gut zwei Jahre nach Beginn der „Geiselnahme“ war die Kriegspräsidentschaft zwar angeblich bereit, die illegalen Gefängnisse aufzulösen, allerdings hieß es im Urteil, dass sich die lokalen Behörden nicht in der Lage dazu sahen, diese Auflösungsanordnung (die von höherer Stelle gekommen war) in die Tat umzusetzen, denn die im Jahr 1992 von Serben verschleppten muslimischen Angehörigen wurden immer noch vermisst, sodass die Zivilbevölkerung nach wie vor auf eine Inhaftierung der Serben bestand. Warum, ob aus Rache oder um ein Austauschpfand zu haben, ist nicht ganz klar. Selbst eine Verlegung der serbischen Opfer in ein anderes Gefängnis lehnte die muslimische Zivilbevölkerung in Pazarić ab. Die Kriegspräsidentschaft entschied daher gegen eine Freilassung, offiziell, weil im Fall der Freilassung das Leben der Gefangenen durch Lynchjustiz der muslimischen Gemeindebewohner gefährdet gewesen wäre. Ob das der einzige Grund war, war nicht auszumachen. Da die lokalen Behörden aber auch zu keinem Zeitpunkt Bemühungen entfaltet hatten, die Sicherheit der Gefangenen zu gewährleisten, kann davon ausgegangen werden, dass eine Freilassung von der Kriegspräsidentschaft nie ernsthaft angestrebt wurde. Die höheren Behörden erschienen demgegenüber machtlos, die Freilassung durchzusetzen oder für den Schutz der Gefangenen zu sorgen. Trotz mehrerer Anordnungen übergeordneter Behörden blieben die Gefängnisse daher bestehen. Die lokale Bevölkerung (repräsentiert durch den sog. „Verband der Vermissten“) setzte sogar mehrfach Hafterschwerungen für die Opfer durch: So wurde der Kontakt der Gefangenen zu ihren Familien und der Besuch von Internationalen Organisationen in den Haftanstalten verboten. Ebenso scheinen die schlechten Haftbedingungen nicht nur auf die allgemeine humanitäre Krisenlage vor Ort zurückgegangen zu sein, sondern von den in der Gemeinde lebenden Muslimen aus Rache oder als Druckmittel gegen die serbische Seite gefordert worden zu sein.

     

    Ein weiterer wichtiger Faktor, warum das Verbrechen so lange andauern konnte, war die Untätigkeit der höheren Justizbehörden. Den Gefangenen wurde von der Gemeindepolizei offiziell (als Vorwand zur Legitimation ihrer Festnahme) Waffenbesitz und Kooperation mit dem Feind vorgeworfen. In vielen Fällen stimmte dieser Vorwurf nachweislich nicht, denn die Polizeibehörden hatten bei vielen Serben bereits vor deren Inhaftierung Waffen sichergestellt oder sich ausliefern lassen. Die meisten Opfer waren unbewaffnet, als sie inhaftiert wurden. Diese Vorwürfe hätten umgehend überprüft werden müssen, doch die Station der öffentlichen Sicherheit Hadžići sandte erst Ende 1992, Monate nach der ersten Inhaftierungsaktion, die entsprechenden Strafanzeigen an die zuständige Gerichte ab, die wiederum wegen der Kriegsumstände erst nach Monaten die zuständigen Gerichte erreichten. Demnach scheinen die muslimischen Behörden in Hadžići von Anfang kein echtes Interesse daran gehabt zu haben, die Gefangenen einem ordnungsgemäßen Verfahren zuzuführen. Als die Gerichte die Freilassung der Opfer forderten, machten die lokalen Behörden den Gerichten ferner glaubhaft, dass die Gefangenen aufgrund des Drucks der Zivilbevölkerung nicht freigelassen werden könnten. Im April und Juni 1993 folgte außerdem eine zweite Verhaftungswelle, in der ca. 100 kroatische Zivilisten inhaftiert wurden. Erst im Jahr 1994 fanden erste Vernehmungen durch einen Ermittlungsrichter statt. Freigelassen wurde aber kaum jemand. Dieses Glück hatten allenfalls jüngere Männer, die falsche Geständnisse ablegten und dann gegen gefangen genommene muslimische Kämpfer „ausgetauscht“ werden konnten. Ältere Zivilisten, die man nicht austauschen konnte, wurden den Behörden oft gar nicht zur Kenntnis gebracht.

     

    Die Anklage lautete seltsamerweise nur auf Kriegsverbrechen gegen Zivilisten (Artikel 142 StGB SFRJ) und ursprünglich auch Kriegsverbrechen gegen Kriegsgefangene, wobei das Gericht den Anklagepunkt gegen „Kriegsgefangene“ ohne verständliche Begründung ignorierte. Im Urteil steht, die Kriegsgefangenen seien zahlenmäßig nicht ins Gewicht gefallen, was natürlich als Rechtsgrund, um Kriegsverbrechen gegen Kriegsgefangenen zu ignorieren, nicht trägt. Offenbar wollte sich das Gericht insgesamt auf die Aburteilung der schlechten Haftbedingungen und nicht die Tatsache der illegalen Inhaftierung selbst konzentrieren und meinte, dass man Zivilisten und Kriegsgefangene in dieser Hinsicht dann auch gleich behandeln könnte. Warum eigentlich kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 172 StGB BiH) vorgelegen haben soll, bleibt schleierhaft. Es wurde jedenfalls auch nicht angeklagt. Dabei scheinen alle Voraussetzungen dieses Tatbestands erfüllt zu sein. Der erforderliche ausgedehnte oder systematische Angriff auf eine Zivilbevölkerung hätte allein aufgrund der Inhaftierung der Zivilisten in Hadžići ohne Weiteres bejaht werden können. Daneben gab es am 1. Juli 1992 den Befehl des Polizeikommandanten Šabić an die Serben, sich in ihren Häusern einzuschließen und die Gebäude zu verdunkeln. Es kam daher zu massiven Freiheitseinschränkungen unter Leitung der lokalen Behörden.

     

    Auffällig ist die Nichtanklage von Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor allem, wenn man den Fall mit anderen Lagerfällen vergleicht (z. B. Mejakić et al.), in denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit bejaht wurden und deswegen auch hohe Strafen (nach völkerstrafrechtlichen Strafrahmen) verhängt wurden. Der einzige Unterschied zum gegenwärtigen Fall ist nur, dass es sich in Đelilović um bosnische Angeklagte handelte, nicht serbische oder kroatische Angeklagte. Natürlich waren die serbischen Verbrechen in den anderen Lagerfällen in der Regel hochorganisiert, was man hier im Ausgangspunkt nicht sagen kann. Aber das vorliegende Verbrechen in Đelilović et al. hatte sowohl wegen der großen Opferzahlen als auch der Länge der Inhaftierungen ein enormes Ausmaß. Hinzu kommt, dass die Strafen für die Angeklagten mit 6-10 Jahren Freiheitsstrafe erstaunlich gering ausfallen, wenn man bedenkt, dass es um eine jahrelange rechtswidrige Inhaftierung unter unmenschlichen Bedingungen geht (auch wenn die Haft aus Sicht des Gerichts „nur“ ca. 1 Jahr lang rechtswidrig erfolgte – aber auch da starben mehrere Menschen und verwahrlosten andere). Unter Anwendung des StGB BiH hätte der Strafrahmen bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit demgegenüber bei nicht unter zehn Jahren, in den schwersten Fällen bei bis zu 45 Jahren gelegen.

     

    Hinsichtlich der Beteiligungsmodalitäten fällt auf, dass der Sachverhalt einen typischen Lagerfall zeichnet, in dem eigentlich ein joint criminal enterprise der II. Kategorie anzunehmen gewesen wäre. Verurteilt wurde dann aber nur wegen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung in Mittäterschaft (Art. 22 StGB SFRJ), teilweise auch begangen durch Mittäterschaft durch Unterlassen (Art. 22, 30 StGB SFRJ). Ursprünglich war sogar ein joint criminal enterprise II angeklagt gewesen, aber das Gericht lehnte die Prüfung aus formalen Gründen ab. Die Anklagebehörde hätte es versäumt, die notwendigen Details der kriminellen Abrede und die konkreten Tatbeiträge der Angeklagten darzulegen. Das überrascht vor allem vor dem Hintergrund, dass in der Rechtsprechung des ICTY eigentlich keine allzu hohen Anforderungen an die Darlegung der Verbrechensabrede in der Anklageschrift gestellt werden, man die Abrede auch aus dem tatsächlichen Geschehen hätte rückschließen können und das Gericht ja offenbar trotz der fehlenden Tatplanschilderung dennoch in der Lage war, das Tatgeschehen unter die viel strengeren Anforderungen der Mittäterschaft zu subsumieren (was neben einem gemeinsamen Tatplan zur Begehung der konkreten Taten auch eine konkrete Beteiligung an den Einzelverbrechen und konkrete Kenntnis von den Einzeltaten erfordert). Natürlich wären nicht alle Angeklagten in alle Aspekte der kriminellen Abrede verwickelt gewesen. Dazu hatten sie zu unterschiedliche Positionen inne, aber man hätte auch anhand des Sachverhalts mehrere joint criminal enterprises konstruieren können, so etwa eines zur Inhaftierung der Serben zwischen Đelilović, Fadil Čović, Šabić und Kazić. Den Anstaltsleitern wäre ferner ein joint criminal enterprise II hinsichtlich der unmenschlichen Haftbedingungen vorwerfbar gewesen. Auch wenn die Anklagebehörde pauschal nur ein „großes“ joint criminal enterprise angeklagt hatte, das alle Verbrechen der Angeklagten enthielt, so wäre es doch die Aufgabe des Gerichts gewesen, das Geschehen in mehrere „kleinere“, passgenau zugeschnittene kriminelle Unternehmungen aufzuteilen, um das deliktische Geschehen und die Beteiligung der einzelnen Angeklagten daran korrekt abzubilden (was das Gericht im Übrigen im Fall Trbić auch schon selbst getan hatte). Insofern ist die aus rein formalen Gründen erfolgte Ablehnung des erstinstanzlichen Gerichts, ein joint criminal enterprise II zu prüfen, nicht nachvollziehbar.

     

    Da nach Ansicht des Gerichts nur eine Verbrechenszurechnung über die Mittäterschaft (Art. 22 StGB SFRJ) möglich war, musste das Gericht für jede konkrete Einzeltat nachweisen, dass der jeweilige Angeklagte von ihr gewusst und einen Tatbeitrag zu ihr geleistet hatte. Nun überrascht, dass die Kammer in Bezug auf den Tatbeitrag einen „entscheidenden“ Tatbeitrag verlangt. Dem StGB SFRJ, das laut Kammer die Gesetzesgrundlage für die Verurteilungen bildete, lag aber eigentlich ein Begriff der Mittäterschaft zugrunde, der auf einen „wesentlichen“ oder „entscheidenden“ Tatbeitrag verzichtet und jeden Tatbeitrag ausreichen lässt. „Tatherrschaft“ wurde vom StGB SFRJ nicht verlangt. Tatherrschaftserfordernisse gelten erst seit Inkrafttreten des StGB BiH von 2003, das vorliegend gar nicht zur Anwendung kam. Folglich stellte die Kammer überzogene Anforderungen an den Grad der Tatbeteiligung der Angeklagten. Auf den Schuldspruch wirkte sich das aber am Ende nicht aus, da allen Angeklagten bezüglich der ihnen gegenüber erhobenen Einzelvorwürfe auch entsprechend erhebliche Tatbeiträge nachgewiesen werden konnten.

     

    Der auffälligste Aspekt des Urteils ist aber, dass das Gericht die Unrechtsstrukturen, die doch gerade verurteilt werden sollten, als gegeben akzeptiert und das Handeln der Angeklagten innerhalb dieser Unrechtsstrukturen teilweise als etwas betrachtet, das ihnen nicht vorgeworfen werden kann. So vermittelt die Kammer an mehreren Stellen den Eindruck, als übernehme sie das Narrativ der Verteidigung von dem Hineingeworfensein in Unrechtsstrukturen, für die der Einzelne nichts konnte. Dabei hätte das Gericht in seinem Urteil den Angeklagten gerade vorwerfen müssen, dass sie in diesen Strukturen mitschwammen, sich nicht auflehnten. Bei serbischen Angeklagten in Lagerkonstellationen in anderen Fällen hatte das Gericht das durchaus auch so getan.

     

    Auffällig ist etwa, dass das Festhalten der Zivilisten unter unmenschlichen Haftbedingungen in den Gefängnissen nur den höchsten Entscheidungsträgern Đelilović und Kazić zugerechnet wurde, aber gerade nicht den Gefängnisleitern (Hujić, Mešanović, Halid Čović und Šabić), die vor Ort in den Haftanstalten tätig waren. Das überrascht, da diese Personen in der jeweiligen Anstalt den höchsten Rang bekleideten und demnach eigentlich die Verantwortung für das Wohlergehen von Gefangenen und Wachen trugen. Die Begründung des Gerichts, eine Mittäterschaft durch Unterlassen sei hier zu abzulehnen, weil die Anstaltsleiter ohne einen Befehl der Kriegspräsidentschaft (geleitet von Đelilović) oder der 9. Gebirgsbrigade (geleitet von Kazić) nicht zuständig gewesen wären, die Haftbedingungen zu verbessern, überzeugt nicht. Das Gericht fährt fort, dass es den Angeklagten nicht vorwerfbar sei, dass dieser Befehl, die Haftbedingungen zu verbessern,  ausgeblieben war, da sie täglich Bericht an die nach Ansicht des Gerichts zuständigen Angeklagten erstatten und dabei auch die schlechten Haftbedingungen moniert hatten. D. h. das Gericht sieht die Gefängnisleiter nicht für zuständig an, die Haftbedingungen von sich aus zu ändern. Sie mussten erst tätig werden, wenn es ihnen jemand befahl. Im Ergebnis billigt das Gericht damit anscheinend das Verhalten der Anstaltsleiter nach dem Rechtsgedanken der Konstruktion „Handeln auf Befehl“. Dass nur die ranghöchsten Angeklagten für die unmenschlichen Haftbedingungen verantwortlich sein sollen erinnert an das überwundene Prinzip „respondeat superior“ (es gilt eine alleinige Strafbarkeit des Vorgesetzten, wenn der Untergebene anordnungsgemäß handelt). Handeln auf Befehl ist im Völkerstrafrecht heutzutage aber nur ganz ausnahmsweise ein Grund, um Strafbarkeit auszuschließen. Die Argumentation ist rechtlich also fehlerhaft. Viel wichtiger wäre gewesen, die Frage zu beantworten, ob es den Anstaltsleitern denn überhaupt tatsächlich möglich gewesen wäre, die Haftbedingungen zu verbessern; und dazu äußert sich das Gericht gar nicht. Es beruft sich nur auf das formale Argument der fehlenden Zuständigkeit, sich gegen das Unrecht aufzulehnen. Damit nimmt das Gericht nun aber die vorgefundenen Unrechtsstrukturen zum Maßstab, anstatt die individuelle Verantwortlichkeit daran zu knüpfen, dass man bei diesem Unrecht mitgemacht hat (was die Angeklagten ohne Zweifel getan haben, soweit ihnen tatsächliche Verbesserungen der Haftbedingungen oder gar die Freilassung der Gefangenen möglich gewesen wäre – aber das wurde vom Gericht nicht erkennbar geprüft).

     

    Ferner hatte die Verteidigung vorgetragen, dass die Angeklagten angesichts der äußeren Kriegsumstände gezwungen gewesen wären, die serbischen Zivilisten zu inhaftieren. Dies wäre der einzige Weg gewesen, die muslimische Bevölkerung vor serbischen „Untergrundkämpfern“ zu schützen (die sich vielleicht aus der serbischen Zivilbevölkerung des Ortes rekrutiert hätte, wenn man diese nicht vorher illegal inhaftiert hätte). Diese Argumentation ist haarsträubend, aber das Gericht übernahm sie dennoch indirekt, indem es akzeptierte, dass die Angeklagten nach der Durchführung der illegalen Inhaftierung (quasi als Geiselnahme, um ein Austauschpfand in den Verhandlungen mit der serbischen Seite zu haben), von der örtlichen Bevölkerung gehindert wurden, dieses Faustpfand wieder aus der Hand zu geben. Die Inhaftierung der Serben war zum Zwecke der Sicherung von Verhandlungsmasse aufrecht zu erhalten. Das Gericht meint daher, dass zwar die Erstinhaftierung illegal war, aber dass die Inhaftierung ab einem gewissen Zeitpunkt, gerade auch, nachdem übergeordnete Behörden die Freilassung der Opfer gefordert hatten, den Angeklagten nicht mehr vorzuwerfen sei. Das ist falsch. Die Angeklagten hatten diese illegale Situation bewusst geschaffen und sind damit auch dafür verantwortlich, dass sie wegen sonstiger kriegsbedingter Umstände am Ende Probleme hatten, ihr Verbrechen zu beenden.

     

    Auch das weitere Argument des Gerichts, dass es die Aufgabe der übergeordneten Behörden gewesen sei, die Schließungen durchzusetzen (diese Behörden hatten die Schließung der Haftanstalten auch tatsächlich angeordnet) und nicht die Angeklagten, d.h. die Angeklagten seien dafür schlicht nicht zuständig gewesen, ist haarsträubend. Natürlich waren die Angeklagten jederzeit in der Pflicht, ihr Verbrechen zu beenden. Dass die übergeordneten Behörden den Angeklagten dazu keinen Auftrag erteilten (vermutlich, weil sie nicht damit rechneten, dass die Angeklagten diesen Auftrag befolgten), entlastet die Angeklagten nicht von der Verantwortung für die Fortführung des Verbrechens, das ihnen ja auch deswegen weiterhin gelang, weil die übergeordneten Behörden gar keine Handhabe vor Ort hatten, die beiden Gefängnisse zu schließen. Das war im Kampfgebiet offenbar nicht möglich.

     

    Immerhin verwirft das Gericht auch offiziell die These der Verteidigung, dass von den inhaftierten Serben allein deshalb Gefahren für die muslimische Bevölkerung ausgegangen wären, nur weil sie sich hypothetisch hätten bewaffnen und als Untergrundkämpfer für die serbische Seite hätten kämpfen können. Dennoch meint das Gericht, die Aufrechterhaltung der Haft nach der Schließungsanordnung der Justizbehörden sei – auch ohne jede von den Gefangenen ausgehende Gefahr – dennoch „gerechtfertigt“ gewesen. Die Kriegspräsidentschaft und alle untergeordneten Einheiten in Hadžići hätten sich dem Druck der Zivilbevölkerung beugen müssen. Welcher anerkannte Rechtfertigungsgrund aber eine mehrjährige völkerrechtswidrige Internierung von unschuldigen Zivilisten (als Geiseln) erlauben soll, das erklärt das Gericht nicht. Es scheint daher den Verteidigungsvortrag wenigstens in dem Punkt zu übernehmen, in dem es heißt, man hätte die serbischen Zivilisten vor Racheakten seitens der muslimischen Bevölkerung schützen müssen. Über Schutzalternativen zur menschenrechtswidrigen Haft wird nicht gesprochen.

     

    Insgesamt kommt das Gericht damit zu der nicht zu verstehenden Schlussfolgerung, dass die Haft ab März 1993 (dem Beginn der Forderungen der muslimischen Einwohner, die Haft aufrecht zu erhalten) den Angeklagten nicht mehr vorwerfbar gewesen wäre, sodass die Angeklagten hinsichtlich der Inhaftierung nur für den Zeitraum von Mai 1992 bis März 1993 schuldig zu sprechen gewesen seien. Diese Auffassung, dass die Konfliktumstände die Täter entlasten können, ist in der Rechtsprechung der Gerichts BiH singulär. Sie verkennt, dass der Gewaltkontext der Taten gerade die besondere Schutzbedürftigkeit der Opfer begründet, da diese in Konflikten besonders verletzlich sind.

     

    Das im Rahmen dieses Projekts übersetzte und analysierte erstinstanzliche Urteil hatte wie gesagt keinen Bestand, sondern wurde durch die Appellationskammer aufgehoben und wird seit dem 17. September 2019 neu verhandelt. Ein neues Urteil ist bisher (Stand: Winter 2020) nicht veröffentlicht und konnte daher in diesem Projekt nicht mehr berücksichtigt werden. Es ist allerdings davon auszugehen, dass sich das Urteil allenfalls in seiner Begründung, weniger in seinen Rechtsfolgen ändert – nur zwei der Angeklagten hatten mit ihren Appellationen Erfolg. Aber auch die Appellation der Anklagebehörde war erfolgreich und könnte jedenfalls dazu führen, dass die Argumentationslücken und -fehler in der Urteilsbegründung korrigiert werden.

     

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    Erstinstanzliches Urteil

     

    Analysedokument

     

    Abkürzungsverzeichnis