

Die Arbeit mit den Strafurteilen des Gerichts BiH verlangt verschiedene Vorkenntnisse, u. a. über die nationalen Rechtsgrundlagen dieser Urteile und die völkerstrafrechtlichen Rechtsinstrumente, auf die sich das Gericht BiH in seinen Urteilen bezieht, aber auch über historische Zusammenhänge, aus denen der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien 1992 entstand.
Als nationale Rechtsgrundlagen steht zum einen das in Bosnien und Herzegowina im StGB BiH kodifizierte Völkerstrafrecht zur Verfügung, das nach Ansicht des Gesetzgebers nur das zur Tatzeit geltende ungeschriebene Völkerstrafrecht widergibt, das damals auch ungeschrieben in der Rechtsordnung des ehemaligen Jugoslawien gegolten haben soll. Wichtige Tatbestände sind insoweit die in Art. 171 ff. StGB BiH niedergelegten Völkerrechtsverbrechenstatbestände: Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Dass dieses Gesetz erst 2003 in Bosnien und Herzegowina in Kraft trat, soll die rückwirkende Anwendung dieser Tatbestände und der zugehörigen besonderen Formen der individuellen Verantwortungszurechnung wie gesagt trotz des Rückwirkungsverbots in Art. 4 Abs. 1 StGB BiH nicht hindern. Nach Art. 4a StGB BiH schließt das Rückwirkungsverbot aus Art. 4 StGB BiH nämlich nicht aus, dass bestraft wird, wer ein Verbrechen begangen hat, das zur Tatzeit bereits nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts strafbar war. Art. 4 StGB BiH übernimmt insoweit den Inhalt von Art. 7 Abs. 2 EMRK.
Angewandt wird damit faktisch das eigentlich ungeschriebene, nachträglich erst in Art. 171 ff. StGB BIH kodifizierte Völkerstrafrecht aus der Tatzeit. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat diesem Vorgehen allerdings teilweise Grenzen gesetzt. Er hat mit Blick auf Art. 7 Abs. 2 EMRK zwar grundsätzlich die Anwendung der neuen Tatbestände auf die Taten aus den Jahren 1992-1995 gebilligt, jedoch bei den Tatbeständen, die bereits zur Tatzeit mit einem niedrigeren Strafrahmen im damaligen StGB der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (StGB SFRJ) existierten, das Gericht auf eine Einzelfallprüfung verpflichtet, welcher Strafrahmen für den Angeklagten günstiger ist – und das ist angesichts der sehr niedrigen Strafen, die das StGB SFRJ neben der damals noch existierenden Todesstrafe als Freiheitsstrafen vorsah, zumeist der Strafrahmen aus den bereits im StGB SFRJ niedergelegten Völkerstraftatbeständen. Diese umfassen aber nur Genozid und Kriegsverbrechen. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden nur im StGB BiH ausformuliert und können somit ohne entsprechende Einschränkungen bei der Strafzumessung als zur Tatzeit bereits geltendes Völkerstrafrecht zur Anwendung kommen.
Was die inhaltliche Ausformung dieses Völkerstrafrechts anbetrifft, so greifen die Urteile in der Regel auf die Ausarbeitung des materiellen Völkerstrafrechts in der Rechtsprechung des Jugoslawientribunals in Den Haag (ICTY) zurück, das 1993 seine Arbeit aufnahm. Insbesondere hinsichtlich der spezifisch völkerstrafrechtlichen Beteiligungsformen joint criminal enterprise und command responsibility wird in den Urteilen des Gerichts BiH vor allem Rechtsprechung des ICTY zitiert. Zum besseren Verständnis dieser Beteiligungsformen enthält diese Seite ein Dokument, in dem die wichtigsten Urteile des ICTY zu Täterschaft und Teilnahme erläutert werden.
Auch die historischen Umstände sind für ein Verständnis der Entwicklung der kollektiven Gewaltvorgänge zentral. Der Jugoslawienkrieg stellte sich als Resultat eines jahrzehntelang andauernden Zusammenwirkens zahlreicher politischer und gesellschaftlicher Missstände dar, darunter die Misswirtschaft und die Menschenverachtung in der Diktatur des Bundes der Kommunisten, der eine von übelster Propaganda begleitete Hinwendung zum Nationalismus der einzelnen Ethnien bewirkte, sowie wirtschaftliche Fehlentwicklungen vor und nach dem Sturz des alten Regimes. Bereits in den 1960er Jahren bildeten sich Spannungen zwischen den Teilstaaten Jugoslawiens. Infolgedessen wurden in der „neuen“ Verfassung Jugoslawiens von 1974 die Identität der einzelnen Nationalstaaten und deren wesensbestimmende Merkmale wie v.a. die jeweilige Sprache unter Schutz gestellt, so jedenfalls auf dem Papier. Faktisch entpuppte sich dieses Recht zur Autonomie wie vieles andere in der Diktatur des Bundes der Kommunisten als Lüge. Nach dem Tod Titos spitzten sich die Spannungen zwischen den Ethnien daher weiter zu und führten letztendlich zu einem Vielfrontenkrieg, der von allen Seiten ganz gezielt gegen die Zivilbevölkerung der jeweils als Gegner betrachteten Ethnie geführt wurde. Zur geschichtlichen Entwicklung enthält diese Seite ebenfalls ein gesondertes Dokument mit Hintergrundinformationen. Darin wird die Darstellung der historischen Fakten ergänzt um Auszüge aus einer soziologischen Studie, in der Veteranen des Jugoslawienkriegs interviewt und ihre Sichtweisen auf und Motivation für den Krieg erforscht wurden.
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Beteiligungsmodalitäten im Völkerstrafrecht dargestellt anhand des ICTY-Statuts