Einführung in das Projekt

Bei der Auswahl der Verfahren lag das Hauptaugenmerk auf Sonderkonstellationen der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit, insbesondere auf Formen kollektiver Täterschaft und wie diese in den untersuchten Urteilen abgebildet werden. Mit diesem Fokus wurden 12 Verfahren des Gerichts Bosnien Herzegowina (Gericht BiH) und ein Strafverfahren des Bezirksgerichts Belgrad ausgewählt.

Zur Abbildung kollektiver Tatbegehung bei Völkerrechtsverbrechen stehen dem Gericht BiH verschiedene rechtliche Zurechnungsmechanismen zur Verfügung, darunter überkommene Formen der Täterschaft und Teilnahme, aber auch besondere völkerstrafrechtliche Zurechnungsmodalitäten wie joint criminal enterprise und command responsibility. Diese vielfältigen Möglichkeiten strafrechtlicher Zurechnung machen es besonders interessant zu untersuchen, wie bzw. inwieweit das Gericht BiH die völkerrechtlichen Zurechnungsmodalitäten aus der Rechtsprechung des Jugoslawientribunals in Den Haag in seine eigene integriert hat.

Neben diesem Hauptaugenmerk auf den Formen der Verantwortungszurechnung, wurde in den ausgewählten Fällen weiterhin in den Blick genommen, wie die Täter faktisch zusammen agierten und welche Bedingungen in diesem kollektiven Zusammenwirken die Begehung einer besonders großen Zahl von Völkerrechtsverbrechen begünstigten. Als Täter agierten im Übrigen zwar hauptsächlich Soldaten und Polizisten, aber auch Personen, die außerhalb von formellen Hierarchien als lose Zusammenschlüsse von Paramilitärs die Bevölkerung „auf eigene Faust“ terrorisierten (vgl. Kapitel D.XI.).

Die analysierten Fälle befassen sich mit kriminologisch höchst unterschiedlichen Szenarien. Deswegen konnte nicht für alle Verfahren dasselbe „Analyseraster“ genutzt werden. Dennoch stellten sich in allen Verfahren die folgenden Fragen:

  1. Wie kann man Personen aus höheren Hierarchieebenen, die nicht unmittelbar selbst am Tatgeschehen beteiligt waren, für die Förderung dieser Verbrechen oder das Schaffen eines Klimas der Gewalt zur Verantwortung ziehen?
  2. Inwieweit waren die lokalen militärischen Leitungsebenen und die zivilen Krisenstäbe im ehemaligen Jugoslawien für Völkerrechtsverbrechen mit verantwortlich?
  3. Wie begegnen die aburteilenden Gerichte dem Umstand, dass viele der auf oberster ziviler oder militärischer Ebene angeordneten Verfolgungsmaßnahmen unter dem damaligen Kriegsrecht an sich „legal“ schienen, die Opfer aber gegen die dann stattfindenden Angriffe aufgrund des (vorhersehbaren) Versagens sonstiger zur Verfügung stehender staatlicher Schutzmechanismen de facto schutzlos stellten?
  4. Wie bewerten die Gerichte das Maß des individuellen Beteiligungsunrecht im Rahmen der Strafzumessung?

Zu dieser letzten Frage, der Frage der Strafzumessung, hat die Untersuchung leider wenig Brauchbares ergeben, denn viele Urteile enthalten keine besonders vertiefte Strafzumessungsbegründung. Und nicht nur das, die strafmildernden und strafschärfenden Faktoren werden von Urteil zu Urteil anders gehandhabt. Eine systematisierende Darstellung der Strafzumessungspraxis des Gerichts BiH konnte angesichts dieser unsystematischen Vorgaben nicht geleistet werden. Auch ergab die Untersuchung erste Verdachtsmomente, dass gegen Serben und Kroaten in den Urteilen massivere Vorwürfe erhoben werden als gegen Muslime. Nachdem das Projekt aber die Anklagestrategien der Staatsanwaltschaft für Bosnien und Herzegowina nicht vertieft beobachten konnte (Anklageschriften werden nicht veröffentlicht), bleibt es insoweit nur bei der Sammlung erster Indizien für einen Anklage-bias zugunsten muslimischer Angeklagter.